Simone de Beauvoirs Protagonistinnen sind fürwahr keine Heldinnen. Alle sind sie mehr oder weniger vom Wahnsinn bedroht, auf bestem Weg in die Neurose, weil sie darstellen müssen, was sie nicht sind; ein Leben führen müssen, das ihnen nicht entspricht. „Ich zeige“, sagt de Beauvoir, „Frauen, wie sie sind, als zerrissene Menschen, und nicht, wie sie sein sollen.“
Das hat der Ikone des Nachkriegsfeminismus, der Autorin von Das andere Geschlecht, bisweilen den Vorwurf eingebracht, nicht feministisch genug zu sein. Dieser Vorwurf wird nicht alt, über die Jahre hat er sich im Wortlaut kaum verändert, wenn Frauen über Frauen schreiben, die an ihrem Leben zu zerbrechen drohen. Sei es bei Gabriele Wohmann oder Annika Reich. Besonders hart hat es dieses Jahr Gertraud Klemm mit ihrem Aberland getroffen.
Zwei Frauen, Mitte 30 und Ende 50, Mutter und Tochter, stecken fest. Sie spulen ihr Dasein von Einladung zu Einladung ab, die jüngere voller Hass auf Mann, Kind und Umwelt, die sie unerbittlich in ihre Rolle zwingen, und auch voller Selbstverachtung, weil sie nicht dagegen aufbegehrt. Die andere voll sanftem Zynismus, weil sie verstanden hat, dass der Preis ihrer Freiheit ihre Privilegien wären: Ihre Fessel ist das seidige Futteral eines Kleids, das 1.349 Euro kostet, damit es auf ihrem Körper funktioniert. Hin und wieder gibt sie sich einer Ausbruchsfantasie hin, mit einer Freundin in eine kleine Wohnung zu ziehen und dort erfüllt gemeinsam zu altern; leider ist ebenjene Freundin an Krebs gestorben.
Babyshower und Ritterparty
Der Roman folgt den beiden Frauen in ihren Überlegungen, die sich in abwechselnden Schwällen Bahn brechen. Beide beobachten alles sehr genau, ihre Ausführungen sind detailreich und scharfsinnig. Aber sie arbeiten sich nur an alltäglichen Kleinigkeiten ab, sie haben weder Zeit, Kraft noch Lust, aus ihren Eindrücken eine Haltung zu gewinnen, die sie emanzipiert. Sie hangeln sich von Babyshower zu Pensionierungsfeier, von Geburtstag zu Ritterparty, und selbst eine als temporäre Ausflucht getarnte Affäre mit einem alternden Maler wird Franziska, der Jüngeren, nicht gelingen, weil sie eben „nicht die Schale ihres geregelten Daseins sprengen“ will. Das Leben sollte mehr hergeben, aber ändern darf es sich dabei nicht.
Stattdessen wird sie ein zweites Mal schwanger, warum auch nicht? Aber der Fötus hat drei 21er-Chromosomen, Franziska treibt ab. Immerhin hat sie jetzt Zeit für ihre Dissertation; die Freiheit ist grausam, aber nun, es ist eine Perspektive. Am Ende steht sie in der Küche und wird ganz ruhig, „als würde sie in Shavasana, der Totenstellung, entspannen, aber im Stehen anstatt im Liegen“. Der Zukunft als Yogazombie steht nichts mehr im Weg.
Der Text ist ein Fest voller kleiner Bösartigkeiten, alle bekommen ihr Fett weg. Der Enge haben die Protagonistinnen vor allem ihre spitzen Zungen entgegenzusetzen. Sie sind bitter geworden, die Tochter mehr noch als die Mutter, und was ihnen von der Emanzipation bleibt, ist der Grimm darauf, dass sie nicht stattgefunden hat, sondern bloß in Büchern daherbehauptet wird.
Dass der Vorwurf des mangelnden Feminismus ausgerechnet Aberland traf, ist vermutlich ein Zufall, den das Fernsehen provoziert hat. Mit dem ersten Kapitel gewann Klemm 2014 den Publikumspreis in Klagenfurt. Die Jury hatte sich nicht recht einigen können, Burkhard Spinnen hatte den Text zunächst im Verdacht, „Frauenzeitschrift-Aufschrei-Befreiungsprosa“ zu sein, die sich gegen die „absoluten Selbstverständlichkeiten der Reproduktion“ richte.
Selbst Hamsun
Damit war das Fass auf. Ist das Feminismus? Nein, sagte in der FAZ Rose-Maria Gropp, das sei der „Rückfall hinter jede Idee von Gleichberechtigung der Geschlechter“. Nein, sagte Anna-Lena Scholz in der Zeit, Klemm könne die „larmoyante Selbstbegrenzung ihrer Romanfiguren nicht kritisch wenden, weil sie selbst in den Grenzen der Gattung feministischer Befindlichkeitsliteratur verbleibt. Ihr fehlt ein eigener Ton, der etwas aufreißt, was wir noch nicht wussten.“
Ist es sinnvoll, einem Text die Frage zu stellen, ob er feministisch genug ist? Ein literarischer Text ist keine politische Intervention. Er hat keine Appellfunktion, man kann ihm adäquat nicht direkt antworten. Deswegen behalten die Werke von Louis-Ferdinand Céline, von Knut Hamsun, selbst jene von Robert Brasillach ihre Gültigkeit.
Gertraud Klemm hat es getroffen, es hätte aber auch Anke Stelling sein können. In Bodentiefe Fenster (siehe auch Freitag 21/2015) erzählt sie von Sandra, Mutter zweier Kinder, die in einem Wohnprojekt in Berlin-Prenzlauer Berg sitzt und fühlt, dass etwas falsch läuft; nur was, darauf hat sie keine Antwort. Vielleicht sind es die alternativen Ideale, die mit den Anforderungen der Realität so schwer in Einklang zu bringen sind; die Kinder, denen man unmöglich gerecht wird; die Mitmenschen, Partner, Freundinnen, alten Bekannten, die sich ihrer selbst durch fortwährendes Reden versichern müssen; vielleicht ist es aber auch nur sie, die grüblerisch und schlecht gelaunt und viel zu kritisch ist. Und sie kann nichts tun, am Ende nicht einmal mehr weinen. Sandra versiegt.
Dass es die Geschichten der Frauen gibt, die Klemm und auch Stelling beschreiben, stellt keine der Kritiken ernsthaft infrage. Die unangenehme Frage, die diese Bücher aufwerfen, ist tatsächlich doch: Warum ist das Thema nicht längst durch? Warum beschäftigt man sich wieder und wieder mit der spezifischen Tristesse des kleinkindbehafteten weiblichen Alltags? Die Antwort liegt nahe: Weil es nicht so einfach ist, wie wir es gern hätten. Weil Karriere und Kinder, Selbstverwirklichung und Fortpflanzung noch immer schwer zusammengehen. Weil die alltäglichen Ambiguitäten auch für kluge Protagonistinnen nicht zu vereinbaren sind. Aber warum nicht?
Es scheint so, dass Texte, die vom Alltag der Frauen handeln, diesen Frauen bitte schön auch gleichen müssen: Sie sollen unsichtbar bleiben. Es reicht nicht, zu schreiben, was ist, das will ohnehin keiner hören (außer, beim Bachmannpreis, das Publikum natürlich). Am Ende der Bachmanndiskussion fragte Daniela Strigl: „Liegt der Grund, warum wir diese düstere Welt und dieses Lebensbild nicht aushalten, vielleicht darin begründet, weil sie von einer weiblichen Protagonistin zur Sprache gebracht werden? Wir versuchen Welt, Familie und Mann zu retten, aber muss man das?“ Und Burkhard Spinnen darauf: „Im eigenen Leben ja, in der Literatur: nein.“ Das war eine nette Umschreibung dessen, was Marcel Reich-Ranicki meinte, als er 1977 Karin Struck fragte: „Wen interessiert schon, was die Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert?“
Männliches Leid ist immer universell. Wenn aber Frauen leiden – am Verfall ihres Körpers, an den Anforderungen ihres Umfelds –, dann ist das ihre Sache. Darüber schreibt man keine Bücher, und wenn doch, dann bitte schön Ratgeber. Das, was der Text zu sagen hat, will man im Grunde nicht hören. Man lehnt nicht den Text ab, sondern das ganze Thema. Und das ist dann keine Literaturkritik, das ist das Aufpflanzen ideologischer Hoheitszeichen.
Info
Gertraud Klemm Aberland Droschl 2015, 184 S., 19 €
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