Nirgends daheim

Porträt Bov Bjerg erzählt davon, wie man in Süddeutschland erwachsen wird. Ein Gespräch mit dem hochgelobten Schriftsteller über das Phänomen Provinz
Ausgabe 33/2015

Wir treffen uns in einem Biergarten in Berlin-Prenzlauer Berg, im Umfeld der Berliner Lesebühnenszene sind wir uns schon mehrmals über den Weg gelaufen. Eigentlich wollte ich mit Bov Bjerg über Süddeutschland sprechen, immerhin kommen wir beide aus Baden-Württemberg. Doch schon bald landen wir bei der Provinz als solcher. Sein zweiter Roman Auerhaus handelt von fünf Jugendlichen, die in der württembergischen Provinz der 80er Jahre eine WG gründen, nachdem einer von ihnen einen Selbstmordversuch hinter sich hat. Das Buch wird einhellig gelobt, „zauberschön“ urteilt etwa der Spiegel. Zu Recht werden der liebevolle Ton und die stilistische Genauigkeit in nahezu allen Besprechungen hervorgehoben. Aber worin unterscheiden sich nun die verschiedenen Regionen?

der Freitag: Jugendselbstmord, so mein Eindruck, ist eher ein Provinzphänomen. Leute, die in der Stadt aufgewachsen sind, kennen das nicht in dem gleichen Ausmaß wie Landkinder.

Bov Bjerg: Das weiß ich nicht genau. Aber ich glaube, was für Suizid im Jugendalter eine Rolle spielt, ist das Gefühl: Du entfernst dich sehr von deiner Herkunft, sowohl geistig wie sozial, dann auch bald geografisch. Überdurchschnittlich viele Bildungsaufsteiger landen über kurz oder lang in Therapie, weil dieses Gefühl von Fremde – zum Beispiel als Arbeiterkind an der Universität – schon zu großen Problemen führen kann. Und ich kann mir vorstellen, dass das vielleicht auch schon früher einsetzt.

In „Auerhaus“ sitzen alle wie hinter einer Milchglasscheibe. Im Grunde ist es Zufall, dass Frieder sich umbringen will. Es könnten auch andere sein.

Ja, das stimmt.

Es wird sich auch wenig unterhalten. In dem ganzen Buch wird kaum einmal eine Frage gestellt, die versucht, das Gegenüber zum Reden zu bringen. Alles, was die Figuren wissen wollen, ist: Was passiert jetzt? Sie bleiben sich alle fremd, als wären sie eine Kleingartenkolonie, als wären sie abgetrennte Parzellen.

Ich formuliere das mal positiver: Ich finde eher, dass sie sich gegenseitig gelten lassen. Der ist halt so, die ist halt so, und insofern akzeptieren wir uns gegenseitig. Das hat eher etwas Solidarisches als Egozentrisches.

Aber gehört zum Solidarischen nicht auch ein Grundempfinden gegenüber dem anderen?

Ja, aber sie ziehen alle zusammen. Natürlich hat auch jeder seine egoistischen Motive, aber wie will man herausfinden, was daran egoistisch ist und was altruistisch? Man bleibt schon cool, indem man nicht zugibt, dass man liebt. Aber diese Liebe oder Solidarität, die ist da.

„Auerhaus“ ist im Grunde ein Buch über die Provinz. Es ist Zufall, dass die Geschichte im Schwäbischen spielt.

Stammesklischees nerven mich. Jede wohlhabende Provinz in Deutschland ähnelt der anderen. Das betrifft natürlich vor allem den Süden und den Südwesten. Ob Pfalz, Hessen oder Bayern: Die Käffer sehen alle gleich aus. Da sitzen Leute, die haben Schotter, und entsprechend bauen sie sich ihre Umwelt.

Und je mehr Schotter, desto deutlicher die Abgrenzungen.

Genau. Das hat aber wenig mit so Stammessachen zu tun. Zum Beispiel ein ganz anderes Klischee: Kehrwoche. Das kannte ich gar nicht. Ich hab das zum ersten Mal in einem Mietshaus in Gelsenkirchen gesehen.

Der Berliner Blick verfälscht da ja auch. Von hier aus gesehen, ist alles südlich des Weißwurstäquators Bayern – und da wohnen nur Schwaben.

Ich habe versucht, sowohl das Zeit- als auch das Lokalkolorit möglichst zurückzuschrauben. Mir geht das tierisch auf die Nerven, auch das ganze 80er-Jahre-Getue und dieses Thema „Die lustige Provinz“, egal ob das Schwaben-Klischees sind oder sonst etwas. Das ist alles sehr langweilig.

Als typisch süddeutsch habe ich die Episode über den örtlichen Apotheker empfunden. Im Buch erzählt ein Obdachloser dessen Geschichte. Der Apotheker war einst SS-Mann in Auschwitz und hatte sein späteres Geschäft dank des herausgebrochenen Zahngolds ermordeter Lagerinsassen aufgebaut.

Die Figur hat ein historisches Vorbild: Victor Capesius, der sich in meiner Heimatstadt niederließ. Im ersten Auschwitz-Prozess ist er dann verurteilt worden. Er taucht auch in Peter Weiss’ Theaterstück Die Ermittlung auf.

In Baden-Württemberg saßen die Nazis nicht auf der Straße, sondern im Lions Club. Es gibt da so eine Tradition – Filbinger, Weikersheim, der Erfolg der Republikaner in den 80ern –, Rechtsextreme in der gesellschaftlichen Mitte zu akzeptieren. Dafür gab es keine militante Naziszene.

Die gab es in der Gegend, aus der ich komme, damals nur marginal. Als Jugendlicher habe ich die zum ersten Mal im Schachclub gesehen. Die militante Szene hat erst nach der Wende richtig Aufschwung bekommen. In der Kleinstadt, aus der ich komme, werden jetzt alle naselang so Aufmärsche organisiert. Das ist neu. Und die Konservativen vor Ort schaffen es nicht, sich dagegen aufzustellen. Da wird lieber gegen linke Gegendemonstranten ermittelt. Das ist gewissermaßen wie in Sachsen.

So ähnlich wie Adorno

Der Autor und Kabarettist Bov Bjerg gründete mehrere Berliner Lesebühnen, unter anderem Dr. Seltsams Frühshoppen, Mittwochsfazit und die Reformbühne Heim & Welt. Er war außerdem Redakteur der Zeitschrift Eulenspiegel. 1996 gewann er zusammen mit dem Autor und Kabarettisten Horst Evers den Theodor-W.-Adorno-Ähnlichkeitswettbewerb der Satirezeitschrift Titanic, 2002 den Deutschen Kabarettpreis und 2004 den MDR-Literaturpreis.

1965 im schwäbischen Heiningen als Rolf Böttcher geboren, zog er 1984 nach Berlin und studierte Linguistik, Literatur- und Politikwissenschaft.
1989 gründete er mit Freunden den Salbader, eine Literaturzeitschrift, die vornehmlich Texte aus dem Umfeld der Lesebühnen versammelt. In seinem ersten Roman Deadline (2008) erzählt er, wie die Protagonistin Paula, eine gleichermaßen übergewichtige wie derangierte Übersetzerin von Gebrauchsanweisungen, aus den USA in ihr schwäbisches Heimatdorf zurückkehrt, um das abgelaufene Grab ihres Vaters aufzulösen.

Auerhaus, Bjergs vielfach gefeierter zweiter Roman (2015), spielt ebenfalls in der württembergischen Provinz.
Es geht um fünf Freunde, die kurz vor dem Abitur eine Schüler-Wohngemeinschaft gründen und das „richtige Leben“ suchen. Nils Markwardt

Zurück zum Roman: Im Grunde ist das ja ein sehr schwäbischer Roadtrip. Das Auto, in dem sie sitzen, ist ein Haus.

Wenn man da unbedingt einen Roadtrip draus machen will, ja. Aber eigentlich ist es keiner. Es ist eine Utopie in der ursprünglichen Wortbedeutung, nämlich ein Nirgendsort, der Versuch einer Solidarität. Es ist ja etwas sehr Ungewöhnliches, die Freiheit zu haben, etwas zu leben, was sie davor nicht hatten.

Andererseits wissen sie nicht genau, was sie wollen. Am Ende sind sie unglücklicher als am Anfang.

Ja, der Ich-Erzähler blickt zurück auf eine verlorene Zeit. Da ist sicher Trauer mit im Spiel, eine Melancholie. Der Tonfall der Geschichte hat nicht unbedingt etwas mit der Frage zu tun, wie es dem Erzähler in dem Moment geht.

Okay, das Rauschhafte verflüchtigt sich. Wobei das Rauschhafte ohnehin etwas im Hintergrund bleibt. Ich war überrascht, wie wenig Drogen in dem Haus genommen werden.

Es wird gekifft.

Ja, das schon, aber nicht mit härteren Sachen experimentiert.

Dafür sind die alle zu vernünftig (lacht). Es war damals schon relativ bekannt, dass harte Drogen zu nehmen nicht vernünftig ist. Warum sollten sie? Keiner will von der Schule fliegen, das können sie nicht riskieren. Und dazu kommt: Eine harte Drogenszene gab es bei uns so nicht. Die gab es im Allgäu. Wer harte Drogen haben wollte, fuhr die 200 Kilometer bis nach Memmingen, das war ein großer Umschlagplatz. Aber dafür sind die Protagonisten zu jung, und es gab auch noch nicht so viel wie heute: Alkohol, Kiff, Heroin, und von Koks hatte man schon mal gehört. Und dann gab es LSD und Pilze, aber das war nicht sonderlich groß.

Obwohl sie so vernünftig sind, haben sie keinen konkreten Plan. Sie bereiten ihr Leben danach nicht recht vor.

Der Ich-Erzähler hat nur einen Plan: von der Bundeswehr wegkommen.

Und das ist schon alles, was er von seiner Zukunft weiß. Man merkt an dem mangelnden Plan des Ich-Erzählers, dass er arm ist.

Na ja, was heißt arm? Jedenfalls keiner, dem die Eltern nach Auszug noch das Geld hinten reinschieben. Das als arm zu begreifen ist ein Mittelschichtsblick. Bei mir persönlich war es so: Ich habe Bafög bekommen und meine Mutter sollte noch 500 Mark dazutun. Das kam natürlich auf gar keinen Fall in Frage. Ich dachte: Meine Mutter arbeitet, seit sie 14 ist, zunächst als ungelernte Kraft, später als Verkäuferin, ich kann Abitur machen und nach Berlin zum Studium gehen, und dann soll diese Frau von den Kröten, die sie verdient, mir jeden Monat noch 500 Mark geben? Das geht überhaupt nicht. Dann habe ich nebenher ein paar Jobs gemacht.

Und fandest du dich gut an der Uni zurecht, als du aus so einem provinziellen Kleinstadtmilieu im Bildungsbürgertum ankamst?

Du fühlst dich total verloren. Du weißt nicht, wo es langgeht; du weißt nicht, worauf es ankommt. Und zu meiner Zeit gab es dann noch diese Riesenseminare, da saßen immer 150 oder 200 Leute in einem Saal. Wer sich da durchbeißt, der muss wissen, was er will. Als Arbeiterkind brauchst du eigentlich jemanden, der dich an die Hand nimmt, sonst bist du total verloren. Bei mir hat sich das dann total durch den großen Unistreik 88/89 geändert. Da habe ich dann auch die ganzen Leute kennengelernt, mit denen ich heute noch zu tun habe – Andreas Scheffler, Hans Duschke, Horst Evers –, die dann später die Literaturzeitschrift Salbader und die Lesebühne Dr. Seltsams Frühschoppen gegründet haben. Die waren alle in einer ähnlichen Situation, alle mit einem ähnlichen Hintergrund, und alle haben über kurz oder lang das Studium abgebrochen.

Weil sie sich nicht orientierten konnten.

Für mich war das Schwierigste der sprachliche Wechsel. Als ich nach Berlin gekommen bin, habe ich überhaupt kein Hochdeutsch gesprochen. Ich konnte es lesen, verstanden habe ich es auch. Und was das alles bedeutet, diese Sprache, da schwingt ein Verrat an der Herkunft immer mit. „Wie schwätschn du, du schwätsch ja Hochdeitsch. Bisch jetzt was Bessers oder was?“

Du hast dann trotzdem fast akzentfreies Hochdeutsch gelernt. Ein vorbildliches Beispiel für gelungene Integration.

Ich hatte dann einen kennengelernt, der kam auch von der Alb, und der hatte sich so ein ganz schlimmes Honoratiorenhochdeutschschwäbisch angewöhnt, so einen Mischmasch. Der konnte weder Hochdeutsch noch Schwäbisch. Und da dachte ich: Das darf dir auf gar keinen Fall passieren. Damit bist du in beiden Welten der Arsch. Und dann habe ich mir richtig eingebimst, Hochdeutsch zu sprechen. Heute hört man zwar noch den Akzent, aber es ist trotzdem Hochdeutsch. Gleichzeitig habe ich mir das sehr breite Schwäbisch konserviert, sodass ich mir heute manchmal wie ein Fossil vorkomme, wenn ich die alten Freunde von damals treffe, die alle eine längst viel abgeschwächtere Version sprechen, weil sie halt auch rumgekommen sind.

Am Ende von „Auerhaus“ habe ich den Eindruck, die Figuren können nicht mehr entwickelt werden, nur noch gebrochen. Es wirkt wie eine Wehmütigkeit des Erzählers.

Sie müssten sich verändern, um sich noch zu entwickeln, und der Erzähler tut das ja auch.

Klingt nach einer geplanten Fortsetzung.

Das sehe ich gerade nicht. Der Erzähler kommt dann nach Berlin, und was gibt es Öderes als Geschichten darüber, wie junge Leute nach Berlin kommen?

Frédéric Valin lebt als Autor in Berlin

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