What the fuck

Sexualität Über den weiblichen Körper wird gerade wieder gern geschrieben. Zwei krass gegensätzliche Beispiele
Ausgabe 39/2016

Das große Mysterium des menschlichen Daseins ist der weibliche Orgasmus. Zumindest ist das die Meinung einer gelehrten Fünferbande in Peter Sloterdijks Roman Das Schelling-Projekt, zwei Frauen, drei Männer, darunter ein gewisser Peer Sloterdijk. Der weibliche Orgasmus nämlich, so meint das offensichtliche Alter Ego des Philosophen erkannt zu haben, ist für die Fortpflanzung geradezu überflüssig, eine Übertreibung der Natur und damit erklärungsbedürftig.

Seine Bedeutung sei aber noch nicht voll erfasst worden, nur angedeutet, insbesondere bei Friedrich Wilhelm Schelling, der die Philosophie in eine Universal-Gynäkologie verwandelte und bei der Beobachtung des Monatszyklus seiner Gattin kein Fieberthermometer brauchte, da es zur Entdeckung der Frauengeheimnisse „keinen sensibleren Detektor als den Mittelfinger eines liebenden Organologen“ braucht. Dazu hätte man ganz gern mal die Meinung der Frau gehört; wer weiß, vielleicht hätte sie etwas zur Entdeckung weiblicher Mysterien beizutragen gehabt. Blöderweise sprechen in dem Buch vor allem die Männer. Auf den ersten 100 Seiten, die anhand von Mailwechseln die Orgasmustheorie entwickeln, gehen 75 auf ihr Konto. Bei der Projektvorstellung vor der Deutschen Forschungsgemeinschaft spricht dann in erster Linie Peer Sloterdijk, während eine der Frauen das Protokoll führt und das Scheitern des Antrags konstatieren muss.

Peter Sloterdijks Provokation

Erst am Ende, als es um die Verarbeitung dieses Scheiterns und der amourösen Zwischenfälle im Zuge der Zusammenkunft geht, reden vermehrt die beiden Protagonistinnen, Beatrice von Freygel und Desiree zur Lippe. Kurzum: Die Männer wollen den Frauen den weiblichen Orgasmus erklären, und als ihnen dieses Vorhaben verwehrt wird, werden sie von ebenjenen Frauen getröstet. Peter Sloterdijk hat 250 Seiten darauf verwandt, mansplaining zu illustrieren. Es liegt auf der Hand: Das Schelling-Projekt ist nicht als Roman konzipiert, es ist vielmehr als Provokation gedacht. Schon zu Beginn erklärt das Alter Ego des Philosophen, dass er bei Frustration gern aufs Fahrrad steige, um sich leerzustrampeln. Freilich hat er nicht nur einen biologischen, sondern auch einen philosophischen Grund, Rad zu fahren: Das sei nämlich der Beweis, dass lediglich die Flucht nach vorn neue Lösungen bringe. Aber wo kommt er an, der Sloterdijk, wenn er zwei Stunden herumgefahren ist? Eben: zu Hause. Was er als neue Lösung verkündet, ist altvertraute Heimeligkeit. Sein Abenteuer ist eine kleine Rundfahrt, an deren Ende eine warme Dusche wartet.

Das Buch ist voll mit solchen schiefen Bildern, dass man einen Annotationsapparat bräuchte, um sie alle geradezurücken. Entsprechend unspektakulär sind die Wege, auf denen die Fünferbande zu neuen Erkenntnissen kommt. Guido Mösenlechzner etwa, einem Ethnologen, wird die Decke über seinem Dasein weggerissen, weil seine Affäre für eine Nacht ihm den Finger in den Hintern schiebt: „Danach liefen die Tränen frei.“ Auf nicht wenige Leser mag die Szene den gleichen Effekt haben. Diese unfreiwillige Komik begegnet einem insbesondere in jenen Szenen, die konkret sein wollen, aber sprachlich doch immer wieder in zotige Allgemeinplätze abkippen. Da wird die Schambehaarung zum „Mösenwald“, Frauen tropfen wie „Kieslaster“ oder sie lassen sich von vier Möbelpackern besteigen. Eine der wenigen schönen Szenen gelingt Sloterdijk, als er über ein Vorspiel schreibt, so stelle er sich Pilze sammeln mit Peter Handke vor. Aber eine Seite weiter schon wippt der Mann auf der Frau „wie ein Fan in der Südkurve“. Das Fazit: „Vögeln ist wie Hobeln.“ Ja, und solche Sätze sind wie Späne. Die können weg.

Sloterdijk sagt bereits auf der ersten Seite, jeder schreibe, wie er kann, irgendein Sinn ergebe sich immer. Er bezieht das auf die Orthografie, und doch meint man bereits hier die literarische Grundthese des Autors entdeckt zu haben; eine, die am Ende des Romans als widerlegt gelten darf. Eine Soziologin findet man nicht in diesem Buch, sie hätte das ganze Schelling-Projekt wohl auch durch Hinweise und Fragen schwer gefährdet. Das wird spätestens dann deutlich, wenn man die begleitenden Interviews liest. In der Süddeutschen behauptete Sloterdijk etwa allen Ernstes, der Unterschied zwischen Pornografie und Erotik sei einer der Kameraeinstellung. Großaufnahme und Überbelichtung sind für ihn problematisch, weil sie Erwartungen wecken, die nicht erfüllt werden können. Unklar bleibt, ob Fragen nach Machtstrukturen und Erzählmustern ihm bloß lästig sind oder ihn überfordern? Um das alles wieder geradezurücken, muss man sich eine soziologische Perspektive also von außen dazuholen.

Margarete Stokowskis Mühen

Etwa Margarete Stokowskis Untenrum frei, ein theoretisch angereicherter Entwicklungsroman, der stark autobiografische Züge trägt. Es ist eine Geschichte der What the fucks, der Verarbeitung persönlicher Erfahrungen: des Frau-Seins und der damit verbundenen Erwartungen, eigenen wie fremden. Stokowski, heute Kolumnistin bei Spiegel Online, wächst in Berlin auf, die Mutter Katholikin, der Vater Atheist. Sie ist das mittlere Kind, der ältere Bruder hat bald sein eigenes Zimmer, während sie sich mit ihrer kleinen Schwester eines teilt. Säuberlich errechnet sie den Raum, der jedem zusteht, und teilt das Zimmer in zwei Sphären: ein früher, symbolischer Versuch, sich abzugrenzen, um Intimität herzustellen.

Die Zeit bis zur Pubertät verbringt sie damit, eine gute, aber aufmüpfige Schülerin zu sein, die gern eine Prinzessin wäre. Reiten aber will sie nicht, denn Pferdemädchen haben dicke Hintern, und dicke Hintern sind nicht schön. Sie beginnt ihr schmales Taschengeld für Schminkzeug auszugeben und Stringtangas zu klauen; weil die aber furchtbar unbequem sind, trägt sie die über normalen Unterhosen. Bald schwärmt sie für diesen Jungen oder jene Prominente. Dann vergewaltigt sie der Leiter ihrer Schach-AG. Das Wort „Vergewaltigung“ fällt nicht, denn für alles Sexuelle hat die Protagonistin damals noch keine Begriffe. Dass Gewalt im Spiel war, wird sie erst viel später merken, nach langer und harter intellektueller Arbeit. Zunächst ritzt sie sich, hungert und schweigt. Sie interessiert sich für Physik, aber da sie sich im Unterricht zwischen all den Jungs deplatziert vorkommt und ihre Anwesenheit nur durch herausragende Noten rechtfertigen zu können glaubt, entscheidet sie sich für ihre zweite Leidenschaft, die Philosophie.

Dort beginnt sie die Begriffe und Konzepte kennenzulernen, die ihr erlauben, ihre bisherigen Erlebnisse einzuordnen. Das ist die persönliche Ebene. Um diese Rahmenerzählung gruppiert Stokowski soziologische Untersuchungen, Theorien und Thesen, die ihre Erfahrungen verallgemeinerbar machen. Ihre Grundthese: Wir können untenrum nicht frei sein, solange wir obenrum nicht frei sind, und mit „frei“ meint sie: „dass alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Sexualität und ihrem Körper dieselben Rechte und Freiheiten haben sollen“. So selbstverständlich das klingt, so fern scheint es beim Blick in Frauenzeitschriften, auf populäre Youtube-Kanäle oder den Gendergap. Wie damit umgehen?

Untenrum frei gibt darauf mindestens zwei Antworten. Die explizite heißt: Revolution. Wie die auszusehen hat, damit dann alles gut ist, wird allerdings nicht klar, sie schwebt wie ein Versprechen über den Dingen, ohne dass eine Möglichkeit aufscheint, sie anzuzetteln. Derweil behilft sich Stokowski mit pointensicherem, lakonischem Humor. Der begründet ihre im vorletzten Kapitel beschriebene „Poesie des Fuck You“, mit der man den Zumutungen der Außenwelt begegnen kann. Vorerst geht es um Entlastung. Was danach kommt, daran wird noch gearbeitet. Dafür braucht es jedoch Zuversicht in die eigene Stärke und ein gewisses Maß an Intimität; auch die muss man sich vorerst erkämpfen, aber das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass überhaupt noch etwas nachkommt. Untenrum frei hilft, diesen Kampf aufzunehmen. Es ist ein Ziegelstein, mit dem sich die Milchglasscheiben kruder Vorannahmen zerschlagen lassen. Man sollte das Buch indes nicht neben Das Schelling-Projekt ins Regal stellen, Sloterdijks pathetische Selbstverliebtheit könnte großen Schaden nehmen. Halt: Gerade deswegen sollte man sie doch nebeneinanderstellen.

info

Das Schelling-Projekt Peter Sloterdijk Suhrkamp 2016, 251 S., 24,95 €

Untenrum frei Margarete Stokowski Rowohlt 2016, 256 S., 19,95 €

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