Es ist gegen 21.00 Uhr am 1. September, als Cristina de Kirchner vor ihrer Wohnung im Hauptstadtviertel Recoleta eintrifft und von einem „Schutzkomitee“ politischer Anhänger empfangen wird. Nach der Tage zuvor von Staatsanwalt Diego Luciani gegen sie beantragten zwölfjährigen Haftstrafe halten Hunderte rund um die Uhr eine symbolische Wache, um zu verhindern, dass die 69-Jährige an die Justiz ausgeliefert wird. Als die Politikerin aus ihrem Wagen steigt, dringt ein Mann zu ihr vor, richtet eine Waffe auf ihre Stirn und drückt ab – doch es löst sich kein Schuss. Kirchner bedeckt mit einer Hand schützend ihren Kopf und läuft weiter, als sei nichts geschehen. Die Pistole fliegt zu Boden, der Attentäter versucht zu entkommen, wird
rd jedoch von Sicherheitspersonal und der Menschenmenge gefasst und niedergeschlagen. Die Videoaufnahmen vom Tatort verbreiten sich rasend schnell. Kirchner scheint erst beim Erreichen ihrer Wohnung begriffen zu haben, was passiert ist. Hat sie wie durch ein Wunder überlebt?Als der Täter in der Nacht verhört wird, stellt sich heraus, dass es sich um den in Brasilien geborenen, 35-jährigen Fernando Sabag Montiel handelt, Sohn einer Argentinierin und eines aus Brasilien ausgewiesenen Chilenen. Dass es offenbar ein politisches Motiv für den Anschlag auf Kirchner gegeben hat, zeigen Montiels Tätowierungen, darunter die Abbildung einer schwarzen Sonne als esoterisches SS-Symbol. Dazu werden gegen Kirchner und ihre Regierung gerichtete Hasstiraden in den sozialen Netzwerken entdeckt. Die Staatsanwaltschaft interessiert die Frage, ob Montiel als „einsamer Wolf“ gehandelt hat. Als Antwort stoßen die Ermittler auf ein Rudel argentinischer Neonazis, zum Teil die gleichen Fanatiker, die den Behörden bereits während der Covid-19-Pandemie aufgefallen sind. Ebenso wie in Brasilien und Chile gibt es in Argentinien eine seit Jahren politisch tief gespaltene Gesellschaft. Der regierende Mitte-links-Peronismus um Präsident Alberto Fernández vertritt die nachvollziehbare Ansicht, der Anschlag auf Kirchner sei das Ergebnis einer andauernden konservativen Hetzkampagne, betrieben von der Koalition Juntos por el Cambio von Ex-Staatschef Mauricio Macri und den ihm nahestehenden Medienunternehmen Clarín wie La Nación.Dass Cristina de Kirchner tödlicher Hass trifft, hat besonders einen Grund: Sie hat sich zusammen mit ihrem Ehemann Néstor Kirchner (Präsident 2003 – 2007) stets gegen eine neoliberale Vereinnahmung des Peronismus verwahrt. Zugleich bemühte sie sich um eine erfolgreiche Umschuldung mit den internationalen Gläubigern Argentiniens, ohne das Land hoffnungsloser Verarmung preiszugeben und den Staat finanziell zu entblößen. Die sie unterstützende politische Strömung war stets die progressive peronistische Mehrheitsfraktion „Frente de Todos“ (Sammelbewegung aller).Die studierte Juristin Kirchner bleibt in den Jahren der Militärdiktatur des Generals Videla zwischen 1976 und 1983 politisch in Deckung – auch wenn sie um diese Zeit bereits Mitglied der Peronistischen Partei ist – und arbeitet als Anwältin in Rio Gallegos. Das ändert sich mit der Rückkehr zur Demokratie Mitte der 1980er Jahre, als Kirchner in das Regionalparlament der Provinz Santa Cruz gewählt wird. 1995 führt ihr Weg nach Buenos Aires, erst als Deputierte der Abgeordnetenkammer, zwei Jahre später wird sie in den Senat entsandt, wo sie ihren Sitz mehrfach behauptet. Als Kirchner zwischen 2007 und 2015 als Nachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes das höchste Staatsamt bekleidet, laufen die Konservativen Sturm gegen ihre Gesetzentwürfe zur Justizreform und Demokratisierung des Medienmarktes. Was sie damit auslösen will, beschreibt im Jahr 2009 Frank La Rue, der UN-Sonderberichterstatter für Meinungs- und Pressefreiheit, als „weltweit einzigartiges Modell und Beispiel“. Kirchners Vorstoß scheitert allerdings am hinhaltenden Widerstand des Clarín-Konzerns, der die meisten Zeitungen, Radio- und Fernsehsender im Land unterhält. Die Kampagne gipfelt in einer fortwährenden Diskreditierung Kirchners, lange bevor sie ihre präsidiale Amtszeit beendet hat.Danach häufen sich die Anklagen gegen sie, darunter Vorwürfe wegen mutmaßlicher Korruption, von denen die meisten wegen des Mangels an Beweisen nacheinander eingestellt werden. Einer davon – es geht um einen Bauauftrag, der nicht öffentlich ausgeschrieben wurde und bei dem Bestechungsgeld geflossen sein soll – ist nun von Bundesstaatsanwalt Luciani erneut aufgegriffen worden. Seine Forderung lautet nicht allein auf zwölf Jahre Haft. Er will, dass es Kirchner auf Lebenszeit untersagt ist, ein politisches Amt auszuüben. In Buenos Aires erinnert wird die Episode, dass Luciani und einige Richter einst zu den privaten Wochenendgesellschaften von Ex-Präsident Mauricio Macri zählten.In dessen Amtszeit zwischen 2015 und 2019 wurde der Justizapparat vielfach mit anti-peronistischen Richtern besetzt. Man folgte hier einem weltweit bekannten Libretto. Es heißt „Lawfare“ und meint die Kooperation von Medien und Justiz, um den politischen Diskurs zu beeinflussen. Dies reicht von Rufmord über illegale Zeugenerpressung bis hin zu drakonischen Urteilen. Wie geleakte Geheimunterlagen beweisen, startete der Lawfare im Jahr 2009 mit dem brasilianischen Richter Sergio Moro, der entscheidend an der fragwürdigen Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff im August 2016 und den Anklagen gegen Ex-Präsident Inácio Lula da Silva beteiligt war. Es passt ins Raster einer politisch aufgeladenen Rechtsprechung, dass jemand wie Cristina de Kirchner in ihr Visier gerät.