K ugelhagel, Molotowcocktails, brennende Geschäfte. Saldo des wütenden Terrors in den Straßen der Grenzstadt Ciudad Juárez am 11. August: elf Tote, darunter ein vierjähriges Kind, der populäre Radio-Ansager Alan González und drei seiner Kollegen. „Der Terror der Drogenhändler in Mexiko hat an diesem Donnerstag erneut seine Zähne gezeigt“, beschrieb die Mexiko-erfahrene, doch zutiefst erschütterte spanische Kollegin Elena Reina das Grauen in der Tageszeitung El País. „Die Narcos gehen gnadenlos gegen die Zivilbevölkerung vor.“ Die Momentaufnahmen des Reuters-Fotografen José Luis González sprechen eine deutliche Sprache: Schrecken, Entsetzen, Albtraum.
Der seit Ende 2018 amtierende progressive Pr
progressive Präsident Andrés Manuel López Obrador nannte die Gewaltorgie in Ciudad Juárez eine „Ausnahme“ und erntete dafür Befremden in Medien und unter Menschenrechtsaktivisten. Das Massaker war alles andere als ein Einzelfall. Ähnliche Überfälle erschütterten bereits Landesteile wie Reynosa, Fresnillo, Aguililla und Caborca, zwei Tage vor Ciudad Juárez gar Guanajuato und Jalisco.„Den Platz aufheizen“Der Aufstand begann mit einem Kampf zwischen zwei von großen Drogenkartellen unterstützten Banden im Staatsgefängnis von Juárez. Die synchronisierten terroristischen Anschläge folgen dem gleichen Skript, im Jargon der Drogenkartelle als „calentar la plaza“ („den Platz aufheizen“) bezeichnet. Sie dienen nach Verhaftung und Auslieferung namhafter Narco-Bosse an die USA als neues Mittel rivalisierender Restbanden. Deren Ziel ist es, die Armee zum Aufmarsch gegen und zu Verhaftungen von Rivalen zu provozieren, um so die Dominanz dieser Rivalen durch eine neue territoriale Herrschaft der Attentäter zu brechen. Brandanschläge, Vandalismus, Geiselnahme und Ermordung wehrloser Bürger gelten als Machtgehabe an die Adresse der verblüfften Regierung.Dem wegen seiner fortschrittlichen Sozial- und nationalistischen Energiepolitik populären Präsidenten López Obrador attestieren seit Jahresbeginn 2022 jedoch mehrere Umfragen den Einbruch seiner Wählergunst, von 76 Prozent auf 55 Prozent. Rund 42 Prozent der Mexikaner:innen beschweren sich über seinen zu zaghaften Kampf gegen die Korruption und gar 52 Prozent über seine wenig energische Bekämpfung der gewalttätigen Kriminalität.Der Drogenmafia den offenen Krieg zu erklären, das lehnt López Obrador allerdings ab. Sein Zaudern stützt sich auf die katastrophalen Auswirkungen des Vorgehens seiner Vorgänger Felipe Calderón und Enrique Peña Nieto. Ihre militärische Bekämpfung der Drogenbosse befeuerte die sprunghafte Zunahme außergerichtlicher Hinrichtungen durch das Militär, die Mordziffer bei unschuldigen Menschen sowie die schauderhafte Vermehrung von Massengräbern. Der Präsident versucht sich durch gedämpfte Aggressivität von seinen Vorgängern zu distanzieren. Seine Zurückhaltung fordert einen tragischen Preis, die Nationale Suchkommission des mexikanischen Innenministeriums ist alarmiert: Seit 2006 wird nach mehr als 100.000 Vermissten im Lande gesucht, die zwei- bis dreifache Opferzahl der Guerillabekämpfung in Kolumbien respektive der Verschwundenen unter der argentinischen Militärdiktatur. Von den 100.000 Vermissten – potenziellen Todesopfern – verschwanden allerdings 31.000 Menschen seit López Obradors Amtsübernahme. Sein stellvertretender Staatssekretär für Menschenrechte, Alejandro Encinas, fasste bereits 2019 die Schwierigkeiten, die Gewalt zu stoppen, in einem folgenschweren Satz zusammen: „Wir befinden uns in einer dieser Situationen, in denen das Alte nicht ganz gestorben ist und das Neue nicht ganz geboren wurde.“ Zum Neuen bei López Obradors Reformplänen gehörte die Beendigung der ohnehin verfassungswidrigen Militäreinsätze und an deren Stelle der Aufbau einer 50.000 Mann starken Nationalgarde für die Verbrechensbekämpfung.Der Präsident übernahm die Regierungsgeschäfte im Dezember 2018, doch mit dem Beschluss von Anfang August 2022 kommt die Schaffung der Nationalgarde dreieinhalb Jahre zu spät. Zudem soll sie wieder dem Verteidigungsministerium anstatt der Polizei unterstehen.Gerade für Journalist:innen ist der mörderische Umgang mit der Zivilbevölkerung nichts Neues; sie erleben den Modus Operandi der Drogenszene bereits seit Anbruch dieses Jahrtausends. Nach Angaben der Londoner Journalistenschutz-Nichtregierungsorganisation Article 19 wurden innerhalb von 22 Jahren mindestens 154 Reporter:innen und Medienarbeiter:innen in Mexiko entführt, gefoltert und ermordet; 42 Prozent der zwischen 2011 und 2021 in Lateinamerika begangenen Morde an Journalisten entfallen allein auf Mexiko. Seitdem geht die etwas krumme Maxime um die Welt: „Obwohl ohne Krieg, ist Mexiko das gefährlichste Land für Journalisten“ – als seien 100.000 Vermisste keine Kriegsopfer.Seit dem Amtsantritt López Obradors wurden mindestens 33 Journalist:innen im Zusammenhang mit ihren Recherchen und Artikeln über die Drogenkartelle getötet. Der Präsident bestätigte wiederholt, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten seien Opfer der organisierten Kriminalität. Im März behauptete er jedoch während einer seiner „mañaneras“ (dt. vormittags) genannten Pressekonferenzen: „Es gibt keine Straflosigkeit.“ Von den irritierten Journalisten unter Druck gesetzt, versuchte Lopéz Obrador zunächst, seinen Vorgängern die Schuld an der Gewalt gegen Journalisten zuzuweisen: „Fast alle von ihnen sind Opfer einer Kriminalität als Erbe von 36 Jahren neoliberaler Zeit.“ Die Regierung nehme die Verantwortung aber auf sich, versicherte der Staatschef. Allzu oft arten dessen Pressekonferenzen in Litaneien gegen Behörden-Korruption, die von seinen Vorgängern geerbte Armut und in zwar korrekte, doch unproduktive Kritik an den Medien aus. López Obradors Mantras haben Folgen: Die Regierung hat die Führungsrolle im Widerstand gegen den Massenmord an Journalisten an die NGO MX Media Alliance verloren, die von konservativen Verlegern geführt wird.Exil in den USADer einzige von der Regierung angebotene „Schutzmechanismus für Menschenrechtsverteidiger und Journalisten“ kam nach Klagen zahlreicher Journalisten zustande und besteht in einer elektronischen Alarmanlage, die – 24 Stunden am Tag eingeschaltet – Stromrechnungen um das unbezahlbare Fünffache erhöht habe. Die Klagen stellen vor allem die Schutzbereitschaft der Regierung in Frage. Gemeldete Angriffe würden von den Behörden oft nicht korrekt untersucht.Die Sprecherin des UN-Büros der Hohen Kommissarin für Menschenrechte, Elizabeth Throssell, appellierte an die Regierung López Obrador, dem Kampf gegen die Straflosigkeit den Vorrang zu geben. Die Straflosigkeit sei nicht nur eine Verweigerung der Justiz, sondern auch ein Anreiz für die Fortsetzung der Angriffe. Reporter ohne Grenzen berechnete, dass von 1.140 Ermittlungen, die zwischen 2010 und 2018 eingeleitet wurden, nur 16,3 Prozent in ordentliche Gerichtsverfahren mündeten; bei sechs von zehn ergangenen Urteilen sei je ein Beamter involviert gewesen. Der Amerika-Beauftragte von Human Rights Watch, Tyler Mattiace, warnte: „Dieses Jahr ist dabei, für Journalisten in Mexiko als das tödlichste in die Geschichte einzugehen.“Auch die psychologische und leibliche Bedrohung hatte Folgen. Die Mediengruppe Telemundo schätzte bereits 2015, dass mindestens 250 mexikanische Journalisten in den USA Zuflucht oder politisches Asyl beantragt hätten. Seit mehreren Jahren ist auch Europa das Fluchtziel der Bedrohten. Von 2008 bis Mitte 2021 erhielten mindestens sieben mexikanische Journalisten Unterstützung von der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte, der spanischen Taula per Mèxic mit Sitz in Barcelona und der spanischen Sektion von Reporter ohne Grenzen in Madrid.