Held des Augenblicks

Chile Die Stichwahl für das Präsidentenamt steht bevor. Gabriel Boric tritt als Kandidat der Linken an und die Umfragen sagen ihm gute Chancen voraus
Ausgabe 49/2021
Eine Tafelrunde ehemaliger Minister achtet darauf, dass Gabriel Boric bei seinen Auftritten nicht zu weit nach links driftet
Eine Tafelrunde ehemaliger Minister achtet darauf, dass Gabriel Boric bei seinen Auftritten nicht zu weit nach links driftet

Foto: Aton Chile/Imago Images

In der allerletzten gesetzlich erlaubten Umfrage vor der Stichwahl in Chile sagen die Demoskopen des Instituts Pulso Ciudadano am 4. Dezember voraus: Mit einem Vorsprung von gut 13 Prozent werde der linke Kandidat Gabriel Boric am 19. Dezember den ultrarechten, deutschstämmigen Pinochet-Verehrer José Antonio Kast besiegen. Im März 2022 wäre der dann als Lateinamerikas jüngster Staatschef in Amt und Würden. Pulso Ciudadano steht nicht allein mit seiner Prognose. Die Erhebungen von vier weiteren Instituten, darunter das konservativ ausgerichtete CADEM, attestieren Boric einen Mindestvorsprung von bis zu sechs Prozent gegenüber Kast und damit den klaren Sieg im Stechen um die Präsidentschaft. Sollte es den tatsächlich geben, würde der 35-jährige Boric den Mythos zerstören, wonach der Unterlegene in Runde eins – bei der Kast mit 28 zu 26 Prozent vorn lag – kaum je als Sieger aus dem finalen Duell hervorgeht.

Aber die Stimmung im Lande ist gespannt. Betrachtet man die Bilderflut aus den Kampagnen beider Bewerber, verfestigt sich der Eindruck, dass Boric der Held des Augenblicks ist. Er verkörpert die Hoffnung auf den endgültigen Abschied von einem Chile der Anachronismen, in dem von den Pensionsfonds über das Gesundheitssystem bis hin zur Wasserversorgung in den vergangenen Jahrzehnten alles radikal privatisiert wurde. Von den 19 Millionen Einwohnern zählen heute mindestens 30 Prozent zu den vom Abstieg Bedrohten.

Boric entstammt einer Familie mit kroatischen Wurzeln aus der oberen Mittelschicht. Nach dem Besuch der privaten British School und einem Engagement in der Schülerbewegung der Stadt Punta Arenas zog er als Jugendlicher in die 3.000 Kilometer nördlich gelegene Kapitale Santiago und begann dort 2004 ein Jurastudium an der staatlichen Universidad de Chile. Zu jener Zeit regierte der gemäßigte Sozialist Ricardo Lagos, dem die Linke damals die Fortsetzung der unter General Pinochet begonnenen Privatisierungen vorwarf. Vom Vorsitzenden des Verbandes der Jurastudenten 2009 stieg Boric drei Jahre später zum Nachfolger seiner kommunistischen Kommilitonin Camila Vallejo Dowling als Sprecher der Studentenföderation FECH auf, danach zum Vorstand der Konföderation CONFECH. Sie führte 2011 und 2012 die Schüler- und Studentenrevolte gegen die anhaltende Privatisierung des Bildungssystems an.

Bei der Parlamentswahl im Jahr 2013 errang der inzwischen 27-jährige Jurist mit einer hohen Stimmenzahl als unabhängiger Kandidat ein Abgeordnetenmandat für die Region Feuerland. Dem folgte zweimal eine erfolgreiche Wiederwahl. Dabei fiel ins Gewicht, dass Boric Kompetenz und Fleiß als Mitglied verschiedener Ausschüsse, u. a. für Verfassung, Justiz und Gesetzgebung, ferner für Menschenrechte und indigene Völker, Arbeit und soziale Sicherheit attestiert wurden. Von ausgeprägt linken Vorstellungen beeinflusst, gründete der parteilose Boric die sogenannte Autonomistische Bewegung, eine von elf Gruppen des 2017 antretenden Wahlbündnisses Frente Amplio (FA/Breite Front). Von da an kandidierte Boric auf dessen Liste, ermutigt durch Beatriz Sánchez, die als Bewerberin für Frente Amplio beim Präsidentenvotum im November 2017 auf erstaunliche 20,3 Prozent gekommen war.

Zuvor hatte es Jahre einer ultralinken Generalabrechnung mit den Parteien der regierenden Mitte-links-Allianz gegeben, die Sozialisten, Christdemokraten und Kommunisten vereinte. Nicht zu Unrecht wurde ihnen vorgeworfen, Augusto Pinochets ultraliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik letztlich fortzuschreiben. Dann jedoch präsentierte sich der Frente Amplio als akademische, das Erbe einer genuinen Linken aufnehmende Kraft. Diese war umwelt- und genderorientiert, hatte aber zunächst kaum einem Fuß in den Industriegewerkschaften oder urbanen Armenvierteln. Mancher sah gar die Finger des Milliardärs George Soros im Spiel, weil Revolución Democrática, eine Splitterpartei des FA, anfänglich von der Soros-Stiftung Open Society gesponsert wurde.

Das sollte sich mit dem Ausbruch der Sozialrevolte von Ende 2019 ändern, als die radikale Linke zum ersten Mal auf das aus verzweifelter Hoffnung aufbegehrende Volk aus den Vorstädten Santiagos stieß. Zusammen wurden Aktivisten und Bürger von der Polizei im Namen von Staatschef Sebastián Piñera niedergeknüppelt. Boric erlebte das mit, gründete als neue Formation die Convergencia Social und unterzeichnete im Alleingang Piñeras Abkommen für sozialen Frieden und eine neue Verfassung, was ihm scharfe Kritik im eigenen Lager eintrug.

Im März 2021 nominierte ihn die Convergencia Social als Präsidentschaftskandidaten. Boric gewann die Vorwahlen des Frente Amplio und trat bei der Abstimmung über den Verfassungskonvent mit dem Bündnis Apruebo Dignidad an. Ein Konkurrent bei all diesen Stationen war Daniel Jadue, der landesweit wegen seiner innovativen und effizienten Verwaltung bekannte kommunistische Bürgermeister der Gemeinde Recoleta im Norden der Hauptstadt. Boric setzte sich als Präsidentenbewerber gegen ihn durch, und nicht wenige sahen darin eine opportunistische Konzession an einen schwelenden Antikommunismus, der Jadue wohl behindert hätte. Was die Frage aufwirft, wie radikal darf Hoffnung sein?

Eine prominente Tafelrunde aus ehemaligen Ministern der Concertación, Sozialisten und Christdemokraten, sowie aus Denkfabriken wie „Chile21“ berät Boric, damit er die richtigen Konjunkturzahlen zitiert und als junger „Artus aus dem Feuerland“ nicht zu weit nach links driftet. Den Ausschlag geben könnte aber eher José Antonio Kasts katastrophale Kampagne so kurz vor der Stichwahl.

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