In der Abhörfalle

Korruption In Brasilien steht mit Michel Temer in kurzer Zeit bereits der zweite Präsident vor der Amtsenthebung
Ausgabe 24/2017
Erster Entwurf fürs Wachsfigurenkabinett
Erster Entwurf fürs Wachsfigurenkabinett

Foto: Mario Tama/Getty Images

Brasília, 7. März 2017, ein Unternehmer, nicht irgendeiner, sondern der größte Fleischhersteller der Welt, fährt gegen 23 Uhr zum Jaburu-Palais, schenkt den Sicherheitsbeamten ein konziliantes Lächeln, parkt seinen Wagen und wird empfangen. Das Palais ist kein beliebiger Prunkbau, sondern die offizielle Residenz des brasilianischen Vizepräsidenten. Am 1. Januar 2011 zog hier Michel Temer als stellvertretender Staatschef einer Parteienkoalition ein, die Ende 2010 Dilma Rousseff, die Kabinettschefin des damals abdankenden Präsidenten Lula da Silva, an die Staatsspitze wählte. Im November 2014 erhielt Rousseff ein zweites Mandat, wurde jedoch am 31. August 2016 durch ein umstrittenes parlamentarisches Manöver, das nicht wenige Juristen als Putsch bezeichneten, ihres Amtes enthoben. Danach übernahm Michel Temer die Amtsgeschäfte.

Nach einer kurzen Übersiedlung in die Präsidentenresidenz Palais der Morgenröte kehrte Temer fast überstürzt ins Jaburu-Palais zurück. „Wir bekamen dort kein Auge zu!“, beichtet er dem spätabendlichen Besucher, um in boshafter Anspielung auf seine Vorgängerin zu ergänzen: „Ob da wohl Geister durch die Räume flatterten?“

Präparierter USB-Stick

Der Besucher am 7. März 2017 heißt Joesley Batista und ist CEO des 16 Milliarden Euro schweren, weltgrößten fleischverarbeitenden Mischwarenkonzerns JBS, der über 200.000 Angestellte beschäftigt. Etwas umständlich, aber per du erklärt Batista dem angespannten Temer den Grund seiner außergewöhnlichen Visite: „Ich wollte dir ein bisschen zuhören, Präsident, wie es dir in dieser Situation geht ... Der Eduardo, die Ermittlungen und so weiter ...“ Temer sagt daraufhin: „Der Eduardo mit seiner Stänkerei gegen mich? Genau ...“ Die Aufnahme ist schlecht, der Rest des Satzes unverständlich. Der Präsident kann nicht ahnen, dass Batista mit üblen Absichten gekommen ist. In einer Innentasche seines Jacketts trägt er einen versteckten und zur Tonaufnahme präparierten USB-Stick. Es wird – wenngleich mit Störungen – ein 38 Minuten langes, hochexplosives Gespräch aufgezeichnet.

Bei dem von Batista erwähnten „Eduardo“ handelt es sich um den einstigen Temer-Intimus Eduardo Cunha, der als Ex-Präsident der Abgeordnetenkammer Ende 2016 zu einer 15-jährigen Haftstrafe verurteilt worden ist und im April 2016 mit Temer das abgekartete Spiel zum Sturz Rousseffs inszeniert hat. Er habe Cunha seither monatlich sehr viel Schweigegeld (umgerechnet 145.000 Euro) gezahlt, damit er nicht über die „Geschäfte“ des Präsidenten auspacke, erzählt Batista. Worauf Temer antwortet, „das sollte so auch weiter sichergestellt werden“. Eindeutiger kann man sich kaum einer Behinderung der Justiz schuldig machen.

Wochen zuvor hat der vom „Verrat“ des Präsidenten enttäuschte Cunha versucht, Temer zu überlisten. Als Zeuge der Verteidigung sollte der Präsident vor Gericht aussagen, doch kam ihm Richter Moro im südbrasilianischen Curitiba zu Hilfe und strich die Hälfte der 45 Fragen aus Cunhas Liste. Wenige Tage später streut der im Gefängnis eine Hiobsbotschaft: „Wenn JBS auspackt, dann ist die Republik am Ende.“ Es kam wie prophezeit.

Michel Miguel Elias Temer hat seit den 1990er Jahren eine rasante Karriere als neuer Führer der rechtsliberalen Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) und langjähriger Präsident der Abgeordnetenkammer hinter sich. Einer Mehrheit der Brasilianer fällt der gelernte Jurist allerdings erst Ende 2009 auf, als Temer für das Amt des Vizepräsidenten kandidiert. Vergeblich warnt Ciro Gomes, ein ehemaliger Minister, Präsidentin Dilma Rousseff : „Temer ist der kriminelle Spielleiter der Korruption im Parlament!“

Selbstverständlich waren JBS-Vorstand Joesley Batista Einzelheiten der seit Jahren gegen Temer laufenden Ermittlungen bekannt. Die mutmaßlichen Delikte reichten von Schmiergeldzahlungen im Petrobras-Skandal über Bestechungen beim Ausbau des Hafens von Santos bis zu Vergehen gegen das Wahlrecht. Stets leugnete Temer alles und jedes und insistierte, die Vorwürfe seien ein Angriff auf seine Ehre.

Angst vor Lula

Auch wusste Batista von konspirativen Aktionen des eitlen „Operators“, nachdem WikiLeaks 2016 streng geheime Unterlagen der US-Behörden veröffentlicht hatte. Aus Nachrichten der amerikanischen Botschaft in Brasília vom 11. Januar und 21. Juni 2006 ging etwa hervor, dass Temer sich mit US-Geheimdiensten über die Wiederwahl des damaligen Präsidenten Lula da Silva unterhielt und seine Partei als unverzichtbares Zünglein an der Waage pries.

Wegen des schweren Korruptionsverdachts hatten sich seit Ende 2016 Beamte von Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot und der Bundespolizei diskret an die Fersen des Präsidenten wie die von Senator Aécio Neves geheftet, dem 2014 besiegten Rousseff-Herausforderer, und beide beobachtet.

Der Verdacht erhärtete sich nicht zufällig durch Ermittlungen gegen den JBS-Konzern der Gebrüder Joesley und Wesley Batista. Eine Task Force der brasilianischen Justiz stieß auf einen flächendeckenden Korruptionssumpf ungeahnten Ausmaßes. Nach Aussagen Ricardo Sauds, des JBS-Direktors für institutionelle Beziehungen, vor der Staatsanwaltschaft zahlte der Konzern seit 2010 umgerechnet 172 Millionen Euro an illegalen Wahlspenden und Bestechungsgeldern an insgesamt 1.829 Politiker aus 28 Parteien unterschiedlichster Couleur. Da Abgeordnete der Regionalparlamente in den 25 Bundesstaaten ebenfalls bedacht wurden, „kaufte“ JBS faktisch die gesamte Legislative und einen Teil der Exekutive. Als Gegenleistung verlangte der Konzern Parlamentsvoten gegen unerwünschte Gesetze, den Erlass von Steuerschulden und Zugang zu Insiderwissen.

Und Michel Temer? Er soll sich im Auftrag von JBS dafür starkgemacht haben, das Gasliefermonopol des halbstaatlichen Petrobras-Konzerns aufzuheben. Außerdem sorgen seine guten Dienste für einen millionenschweren Schuldenschnitt gegenüber der Sozialversicherungsbehörde. Für die so bewirkten Einsparungen von JBS soll Temer als Gegenleistung umgerechnet vier Millionen Euro erhalten haben, sagt Joesley Batista. Rodrigo Loures, persönlicher Referent des Staatschefs, wurde gar von der Polizei gefilmt, als er aus einem Restaurant eilte, nachdem ihm JBS-Direktor Ricardo Saud einen Koffer mit Geld überreicht hatte.

Um all das zu verstehen, muss man wissen, dass Brasiliens Generalstaatsanwaltschaft einen Kronzeugen-Deal mit den Brüdern Joesley und Wesley Batista ausgehandelt hat. Weder wurden sie verhaftet, noch mussten sie eine elektronische Fußfessel tragen, noch durften sie nicht in die USA reisen, wo der JBS-Konzern mehr als 50 Prozent seiner Geschäfte abwickelt. Nur eine Strafzahlung wurde ihnen auferlegt: 64 Millionen Euro – eine lächerliche Sanktion gegen die Geschäftsführer eines Unternehmens, das 2015 einen Umsatz von 46,5 Milliarden Euro verbucht hat.

Am 13. Mai 2016, einen Tag nach Temers Einsetzung als Übergangspräsident, strich der Bürgermeister der Kommune Btaaboura im Norden Libanons das Wort „Vize“ von einem Straßenschild. Die Einwohner applaudierten euphorisch, verdeutlichte doch die neue „Präsident-Michel-Temer-Straße“, dass der Sohn eines ausgewanderten Dorfbewohners zu einem der mächtigsten Männer weltweit avanciert war. Im fernen Brasilien hingegen schrien sich am gleichen Tag tausende Demonstranten mit der Parole heiser: „Fora Temer!“ (Temer raus!)

Im Moment heißt es wieder: „Fora Temer!“ Nach den Enthüllungen der letzten Wochen verlangen gut 90 Prozent der Brasilianer den sofortigen Rücktritt des Rousseff-Nachfolgers, der zwischenzeitlich als unpopulärster Staatschef Brasiliens aller Zeiten gilt. Ungeachtet dessen beißt sich Temer mit Tricks hinter den Kulissen an der Macht fest. Mit dem Ziel, weitere Ermittlungen zu hintertreiben, wechselte er Ende Mai den Justizminister aus und ernannte den Ex-Richter Torquato Jardim zum Nachfolger. Was sich offenbar auszahlt – mit 4:3 Stimmen erlaubte Temer soeben das Oberste Gericht, vorerst im Amt zu bleiben.

Auch will weiter eine Mehrheit der 513 Abgeordneten des Nationalparlaments Temer vor einer Amtsenthebung schützen. Ohnehin würde das Verfahren Monate dauern. Mit einem verzweifelten Aufbäumen gegen den verfrühten politischen Tod hofft der angeschlagene „Spielleiter“ auf die rasche Verabschiedung seiner „Sozialreformen”, um sich Sympathien von Unternehmern und Teilen der Justiz zu sichern. Doch scheinen die Weichen eher für Rodrigo Maia, den Präsidenten der Abgeordnetenkammer, gestellt zu sein. Als Interimspräsident könnte er die Wahl eines neuen Staatschefs einleiten, der das Land bis zum regulären Wahltermin Ende 2018 führt. Freilich würde es um ein Votum des Parlaments gehen. Nichts fürchtet das konservative Establishment mehr als eine Direktwahl. Es kandidiert ein alter Bekannter: Ex-Präsident Inácio Lula da Silva. Nach Umfragen favorisieren ihn 40 Prozent der Wähler.

Frederico Füllgraf ist freier Autor und lebt in Südamerika

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