So etwas wie den Ausgang des Referendums vom vierten September über den Verfassungsentwurf hatten die Umfrage-Institute nicht einmal geahnt. Mit einer niemals zuvor erreichten Beteiligung von 85 Prozent gingen 13 Millionen Wahlberechtigte zu den Urnen. Mit spektakulären 62 Prozent der Stimmen sprachen sich dort zwei Drittel gegen die vorliegende Charta aus, obwohl noch vor zwei Jahren gut 80 Prozent ausdrücklich für die Ausarbeitung einer erneuerten Verfassung votiert hatten.
Nun aber zelebrierten rechtsradikale Gruppen auf den Straßen Santiagos fahnenschwingend und lautstark einen Sieg. In den sozialen Netzwerken entlud sich Hass auf die Verlierer: „¡Váyanse!“ – „Haut ab nach Venezuela, Kommunistenpack!“ Das Lager des „Apruebo“, der Befürworter, musste mit 38 Prozent eine dramatische Niederlage hinnehmen und ging niedergeschlagen zu Bett. Wenige Stunden nach Verkündung des Ergebnisses postete der kolumbianische Präsident Gustavo Petro einen Tweet mit zwei Worten: „Pinochet revivió“ (Pinochet ist wiedererwacht).
Petro hat recht. Bis auf Weiteres tritt die für tot erklärte Konstitution von 1980 aus den bleiernen Jahren der Militärdiktatur wieder in Kraft. Für wie lange, darüber wagt niemand zu orakeln. Aufgebrachte Chilenen fragen sich allerdings, ob das Ergebnis des Referendums das klassische Stockholm-Syndrom widerspiegelt, indem sich die Opfer für ihre Henker entschieden haben. Doch taten das die Chilenen tatsächlich? Keineswegs.
Wie die begonnene Debatte über die Gründe der Ablehnung zeigt, protestierten sie gegen eine viel zu lange, teils unpräzise Vorlage, die der mit Akademikern und politisch ungeübten Delegierten überfrachtete Verfassungskonvent nicht „an den Mann“ bringen konnte. So erschien zum Beispiel unklar, wie im bisherigen Zweikammersystem der Senat durch eine Versammlung der Regionen ersetzt werden sollte.
Selbstredend wurde auch die Regierung von Präsident Gabriel Boric abgestraft. Die Opposition und ihr nahestehende Medien hatten deren fehlende Neutralität in der Verfassungsdebatte beklagt. Kein Wunder. Borics Wahlsieg und die Einberufung des Konvents waren untrennbar miteinander verbundene Folgen des gleichen radikaldemokratischen Aufstands von 2019. Der Staatschef versicherte bereits im Juli: Egal, wie die Abstimmung ausgehe – sie werde als demokratische Errungenschaft respektiert. Konsequenterweise erklärte er nach der Niederlage: „Die Bürger haben den Vorschlag für eine neue Verfassung klar abgelehnt. Wir müssen nun für einen vertrauenswürdigen Vorschlag härter arbeiten. Ich nehme die Botschaft des Volkes demütig entgegen.“
Der Druck auf ihn ist erheblich, muss er doch unpopuläre Minister entlassen, allen voran seinen Kabinettschef Giorgio Jackson und Innenministerin Izkia Siches. Der Zugriff auf politische Entscheidungen liegt vorerst beim Parlament, das entscheiden muss, ob die fast anderthalb Jahre der Arbeit an den 388 Artikeln der neuen Charta für die Katz waren. Die Regierung vertritt den Standpunkt, eine „ganz neue“ Verfassung müsse das Ergebnis einer transversalen Einigung von den Kommunisten bis hin zu den Rechtsradikalen sein. Doch was die konservativen Fraktionen wollen – ob eine 61. „Reform“ am Flickwerk der Pinochet-Verfassung oder einen „Neuanfang bei null“ –, das weiß kein Mensch. Nicht einmal die Opposition selbst ist sich darüber im Klaren.
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