Der ganz normale Anerkennungswahn

Winnenden Sonntagsreden beherrschen die Debatte um Winnenden. Dieselben, die den Schülern immer mehr Leistung und Konkurrenz abverlangen, fordern jetzt ein besseres "Miteinander"

Gut eineinhalb Wochen nach dem Amoklauf von Winnenden gilt auf Anordnung der Schuldirektion wieder Schulpflicht für die Schüler der Albertville-Realschule. Ab heute stehen die Uhren nach zwölf Tagen Trauer wieder auf Normalität. Jetzt sollte wieder alles funktionieren wie gehabt. Gerne hätte man Tim K. schnell als Psychopathen abgestempelt. Aber der bis vor zwei Wochen unauffällige Tim K., der in Winnenden ein Blutbad an Schülern und Lehrern anrichtete, war normaler als es der Öffentlichkeit lieb sein konnte. Er kam wie die meisten jungen Menschen in seinem Alter seinen Schulpflichten ebenso nach wie den Pflichten eines Sohnes „aus gutem Elternhaus“, pflegte seine Hobbys, lud andere Jugendliche ein, um mit ihnen jenen Vergnügungen nachzuge­hen, die in dieser Generation einen Unterhaltungswert besitzen.

Suche nach Mustern

Psycho-Fahnder versuchen trotzdem nach jedem Amoklauf von jungen unauffälligen Men­schen „Muster“ und „patterns“ zu finden, an denen man den jugendlichen Massenmörder vor seiner Tat erkennt. Dabei verweigern sie sich strikt dem Gedanken, dass unauffällige Ju­gendliche eben keine Monster oder Bestien, sondern normale Kids sind. Wie Millionen anderer ma­chen sie ihre frustrierenden Erfahrungen in Familie, Schule und Bekanntenkreis, kochen diese in ihren Köpfen bisweilen zu Racheplänen auf und machen im Geiste einige ihrer Lehrer, Vorgesetzen, Verwandten oder Bekann­ten „fertig“ – wie Millionen andere das täglich tun. Nur in vereinzelten Fällen mündet die Mordphantasie in einem Massenmord. Natürlich ist dieser Schritt nicht zwingend, ausgeschlossen aber eben auch nicht. Der Tat selbst und ihren Umständen lässt sich bereits so einiges entnehmen – vielleicht sogar schlüssiger als den Chat-Ankündigungen von Tätern.

So wird es wohl kein Zufall sein, wenn Amok­läufer eine bzw. ihre Schule aufsuchen, um dort Verheerendes anzurichten. Sie haben ganz bewusst diesen Tatort gewählt und die dort arbeitenden Schüler und Lehrer, oftmals ohne sie zu kennen, als Repräsentanten einer Institution umge­bracht. Eine Institution, durch die sie verletzende Angriffe auf ihre Persönlichkeit, wenn nicht gar auf ihre personelle Existenz erfahren haben. Das muss man ernst nehmen und sollte es nicht als rein subjektive Deu­tung eines kranken Verstandes abbuchen, die mit der Wirklichkeit der Schule nichts zu tun hat.

Institutionalisierte Seelsorge

Was ist denn die Schule wirklich? Sie ist zum einen ein Ort der Lernkonkurrenz, in der Lehrer über zukünf­tige Lebenschancen junger Menschen befinden, auf die Schüler zum anderen heute ganz selbsttätig eine Konkurrenz der Anerkennung drauf satteln, die manchen Schülern wichtiger ist als die gute Zensur. Die eine Konkurrenz, das ist die schulisch inszenierte Leistungskonkurrenz, in der der nationale Nachwuchs nach Elite und Masse durchsortiert wird, sprich: in seiner Mehrzahl von weiterführen­der Bildung ausgeschlossen wird. Die Verantwortlichen in der Schule wissen, warum sie am Jahresende anlässlich der Zeugnisvergabe pädagogische Seelsorge anbieten und hoffen, dass sich keiner ihrer Schüler das Leben nimmt, weil er sich „mit dem Zeugnis“ nicht nach Hause traut.

In dieser Lernkonkurrenz eignen sich Schüler immer zugleich das Rüstzeug fürs ganz normale Durchwursteln auf dem Ar­beitsmarkt und im Berufsleben an: Denn sie erfahren, dass sie nur dann nicht zu den Verlierern ge­hören, wenn sie dazu beitragen, andere zu Verlierern zu machen, was Anschwärzen ebenso ein­schließt wie Neid und Missgunst. Schüler selbst ergänzen heutzutage die­se Leistungskonkurrenz um eine eigene, eben die Anerkennungskonkurrenz. Alle rohen Formen der Angeberei und des Mobbing – geschlechtsspezifisch sortiert – stehen dabei hoch im Kurs. Da wird geklaut und er­presst, geschlagen und ausgegrenzt, werden Schulen demoliert und Mutproben der brutalsten Art abverlangt. Gelernt haben die Kids, dass der Mensch ohne Selbstbewusstsein nichts ist, dass man also mit einer Portion Selbstbewusstsein die Zumutungen von Schule, Familie und Straße besser aushält – und nur deswegen ist das Selbstbewusstsein zum Erziehungsziel avanciert. Und das über­setzen immer mehr Jugendliche in den Selbstbefund, irgendwie „Superstar“ zu sein, wenn nicht der „Deutschlands“, dann doch wenigstens der der Schule oder der Klasse.

Bin ich wirklich wertvoll?

Der Anerkennungswahn, der sich hier aus­tobt, erweist sich als ein Psycho-Produkt von Konkurrenzerfahrungen, das inzwischen das Privatle­ben derart okkupiert hat, dass jede vernünftige Bilanzierung des materiellen Gehalts einer individu­ellen Lebenslage nur allzu oft überlagert wird von der Frage, wie viel Beifall man für neue Klamot­ten, geschwollenen Bizeps, Sexual- und Saufleistungen, nebst Frech- und Rohheiten aller Art von Mitmenschen erhält, die denselben anerzogenen und inzwischen durchgesetzten geistigen Deforma­tionen anhängen.

Wenn zudem heute Schüler mit 9 oder 10 Jahren ihre Schulhefte auf Lehrergeheiß mit dem Spruch „Ich bin wertvoll!“ zieren – das fällt sachgemäß unter Ethik-Erziehung – , dann darf man sich endgültig nicht wundern, dass dabei der eine oder andere Robert S. oder Tim K. herauskommt. Denn wo in Schule, Familie und Umfeld vermehrt Erfahrungen gemacht werden, die diesen Spruch gerade nicht mit Material unterfüttern, wenn Niederlagen dieser oder jener Art sich vielmehr zu Frust verdichten, dann lässt er sich ebenso in die selbstzerstörerische Frage: „Bin ich wirklich wertvoll?“, wie auch in den fremdzerstörerischen Beschluss: „Denen werde ich es zeigen, dass ich wertvoll bin!“, umsetzen. Es schließt eben die radikalisierte Sorge um jenes Selbstbewusstsein, das sich nur in Idealkonstruktionen von sich selbst herumtreibt und damit Abstand von einer bewussten Bestandsaufnahme der tatsächlichen Lage des "Selbst" Abstand nimmt, beide brutalen Verlaufsformen ein: die Tötung und die Selbsttötung.

„Frust“ als Privatsache

Noch etwas ist der Tat zu entnehmen. Täter machen ihren „Frust“ zur Privatsache, die andere nicht nur nichts angeht, die sogar vor anderen geheim gehalten werden muss. Nicht zuletzt deswe­gen ist Tim K. „unauffällig“. Denn wer seine Schwächen, Beschädigungen und jene Ohnmacht of­fenbart, die seine tatsächliche Lage nun einmal kennzeichnen, der erfährt nur allzu oft, dass ihm all dies als seine höchst persönliche Eigenschaft um die Ohren und manchmal nicht nur um diese geschlagen wird. Der weiß auch, dass jede zugegebene Schwäche in allen Konkurrenzlagen – solchen, an denen die Existenz, und solchen, an denen das Selbstbewusstsein hängt - von Mitkonkurrenten und den Veranstaltern der Konkurrenz brutal zum eigenen Vorteil ausgenutzt wird. Dann wird man als Schwächling, als Loser, als Opfer einsortiert und be­handelt. So etwas darf nicht sein, weswegen die Welt der Heranwachsenden nur aus „coolen Ty­pen“ besteht, die sich den psychologischen Selbstbetrug zur zweiten Natur werden lassen. Als ohnmächtige Wichte, die sie sind und bleiben, ziehen sie dann schon einmal aus der dauerhaft und quälend erfahrenen Ohnmacht den ziemlich verkehrten Schluss, selbst einmal Macht, und gelegent­lich sogar Macht in seiner existenziellsten Form als Macht über Leben und Tod auszuüben.

So etwas registrieren die einschlägigen Talkshow-Runden hier und da. Jedoch nur um blöd anzu­mahnen, dass „wir alle“ mehr „aufeinander zugehen“, uns „mehr umeinander kümmern“ sollten und dass den Lehrern „mehr Zeit für die lieben Kleinen“ eingeräumt werden müsste. Ausgerechnet diejenigen unterbreiten da Vorschläge des „besseren Miteinanders“, die gerade eine Schulreform beschlossen haben, in denen schulischer Leis­tungsstress zunimmt, Konkurrenz unter Lehrern institutionalisiert, Schulzeit verkürzt, das standar­disierte Testwesen ins Zentrum des Unterrichts gerückt wird und allen Ernstes eine Erziehung zu mehr „Frustrationstoleranz“ im Mittelpunkt steht.

Erfundener Selbstwert

Wer sich Mittel ausdenkt, wie Frustration besser toleriert werden kann, hat sich davon verabschiedet, etwas gegen die Ursachen des Frusts zu unternehmen. Auch in anderen Bereichen sind solche Strategien schließlich nützlich: Auf dem Arbeitsmarkt, in der Berufswelt, in den Sozialsystemen und auf dem Wohnungsmarkt wird zum Beispiel mit der Agenda 2010 durch Konkurrenzverschärfung für hinreichend Frust gesorgt. Und den Bürgern bleibt dann wie üblich als Mittel zur Sicherung ihrer Privatexistenz allein der Weg, sich gegen andere Privatexistenzen konkurrierend durchsetzen. Da lässt sich gut „aufeinander zugehen“, da lässt sich gut um den „Mitmenschen kümmern“! Neu ist das alles nicht, aber heftiger wird’s schon. Weswegen es erneut nicht verwundern darf, dass Menschen, deren Kopf randvoll ist mit unbewältigten Lebens- und Anerkennungsproblemen, diese solange mit sich selbst ausmachen, bis sie meinen, der Welt Beweise für ihren erfundenen Selbstwert zeigen zu müssen: als Machtausübung mit den Mitteln der Gewalt!

Freerk Huisken ist pensionierter Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Bremen. In seinem letzten Buch Über die Unregierbarkeit des Schulvolks. Rütli-Schulen, Erfurt, Emsdetten usw. (VSA, 2007) befasst sich Huisken kritisch mit den Ursachen und Konsequenzen der schulischen Produktion von Schulverlierern.

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