Ein Priester in der Hölle – Berichte aus Gaza

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Der Titel legt nahe, dass es sich um einen religiösen Text handelt, doch die Hölle von der hier die Rede ist, ist sehr real und weltlich. Sie befindet sich im Nahen Osten, genauer gesagt, im Gaza-Streifen.

Das Buch gibt das Gespräch des italienischen Priesters Nandino Capovilla mit seinem ehemaligen Amtskollegen, dem palästinensischen Priester Abuna (Vater) Manuel Musallam wieder, in dem er von den Geschehnissen in Gaza während des Krieges in den Weihnachtstagen 2008 und kurz danach berichtet. Pater Capovilla leitet u.a. die Aktionen von Pax Christi Italiana in Israel und Palästina. Vater Manuel Mussalam, geboren 1938 in Palästina, war von 1995 an für 14 Jahre Priester in Gaza. Er lebt heute in Bir Zeit.

Das Buch beginnt mit einem Vorwort von Nandino Capovilla, das den bezeichnenden Titel „Stärker als der Krieg“ trägt. Bereits die ersten Zeilen führen uns in eine Realiät, die wir Europäer gern vergessen möchten. „Am Ende des Blutbades landeten auf den Tischen der untätigen Diplomaten und schweigenden Medien die schauerlichen Daten von über fünftausend Verwundeten und eintausenvierhundert Toten, darunter über dreihundert Kinder.“ Weiter erzählt er vom Zustandekommen des Gesprächs und von der Atmosphäre, in der es geführt wurde.

Vater Mussalam beginnt seinen Bericht mit einem kurzen Überblick über sein Leben. Geboren in Palästina, wurde er nach seiner Ordinierung zum Prieser 1963 nach Jordaninen entsandt. 1995 schickte ihn der Patriarch Michael Sabah als Priester nach Gaza, dorthin folgten ihm auch seine Eltern. Nach seiner Pensonierung kehrte er nach Bir Zeit zurück. Dazu sagt er: „Um frei aus Gaza ausreisen zu können, hätte ich meine Einstellung radikal ändern müssen“ und „ als Mensch, als Palästinenser und als Araber und erst dann als Christ und Priester werde ich lebenslang bezeugen, was ich in all den Jahren im Gefängnis von Gaza gesehen und erlebt habe.“

Er berichtet über die Zeit des israelischen Embargos, dass sich 2006 verschärfte, als die Hamas die Macht in Gaza übernahm und zeigt auf, wie sehr diese „Belagerung“ das tägliche Leben beeinflusst. „Das Gas zum Kochen kam tropfenweise. Es gab weder Strom noch Benzin noch Brennholz.“ An anschaulichen Beispielen erklärt er die Wirkung der Blockade auf das Leben und die sozialen Beziehungen der Menschen. Auf die Frage nach dem Verlauf der Wahlen 2006 antwortet er, der von sich selbst sagt, er sei kein Anhänger der Hamas, „Die Hamas wurde demokratisch gewählt und nach der Wahl haben die externen internationalen Beobachter ausgesagt, dass die Korrektheit und Transparenz bei deren Durchführung bewundernswert und beispielhaft waren.“ Die extreme Lage nach der völligen Blockade durch Israel ist, seiner Ansicht nach, dafür verantwortlich, dass es Extremisten leicht gemacht wurde, in Gaza Fuβ zu fassen.

Über die Operation „Gegossenes Blei“, erzählt er, dass bereits einige Tage vor dem 27.12. die Vorbereitungen begannen. So wurde die Ausländer von ihren Botschaften aufgefordert Gaza zu verlassen. Allen internationalen Organisationen wurde die Einreise verwehrt. Dann erfährt der Leser wie Gaza aus der Luft und vom Heer angegriffen wurde. „Als das Heer kam, die Landstreitmacht, wurden mehr als einen Kilometer landeinwärts alle Häuser dem Erdboden gleich gemacht,..“ Er beschreibt wie es den Bewohnern erging. „Das war kein Krieg von Soldaten gegen Soldaten, sondern ein Krieg gegen unbeteiligte Zivilisten.“ Er kritisiert auch die Presse, die zum grossen Teil auch ohne die Details zu kennen, einseitig Stellung bezog. Jedoch erkennt er an, dass den Journalisten fast jede Möglichkeit genommen war, sich ein eigenes Bild von der Situation zu machen. Er beschreibt die von Israel eingesetzten Waffen, deren Gebrauch von Amnesty International angprangert wurde, darunter Phosphor- und Pfeilbomben. Immer wieder weist Pater Musallam darauf hin, dass kein Unterschied zwischen Aktivisten und Zivilisten gemacht wurde, dass Frauen und Kinder Opfer des Angriffs wurden.

Befragt zur Rolle der Christen in Gaza berichtet er, dass etwa 3500 Christen in Gaza leben. Unter den Schülern der katholischen

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Kein Gaza 2.0 - Frieden ist der Weg! - Bildquelle:http://www.flickr.com/photos/phrisrael/3229065044/sizes/o/in/photostream/


Schulen im Heiligen Land sind ca. 90% Muslime. Die unterschiedlichen christlichen Gemeinden in Gaza, Protestanten, Katholiken und Orthodoxe, arbeiten eng zusammen. Ihre Einrichtungen stehen der gesamten Bevölkerung unabhängig vom Glauben offen und werden auch angenommen. Er kritisiert auch die Christen im Ausland, die „für die Christen beten und Christen helfen“. „Unser Blickwinkel ist anders; wenn wir von der Kirche Hilfssendungen bekommen, teilen wir diese mit den Muslimen, mit unseren Brüdern von unserem Volk.“ Das Zusammenleben von Christen und Muslimen ist neben den Auswirkungen des Krieges eines der zentralen Themen seines Berichtes und er wird nicht müde zu betonen, dass diese Beziehungen sehr eng sind, Fest gemeinsam gefeiert werden und in den christlichen Schulen der Koran ebenso gelehrt wird wie die katholische Religion an staatlichen Schulen. „Wir behandeln die Jugendlichen und Kinder alle gleich, ungeachtet ihrer Religion“. Auch von der Hamas drohe den Christen keinerlei Gefahr, sie sei vielmehr bemüht, das Verhältnis positiv zu gestalten.

In sehr persönlichen und aufwühlenden Worten beschreibt Pater Musallam an Beispielen die Situation der Menschen in Gaza während und nach der 22tägigen Belagerung und prangert das menschenverachtende Verhalten der israelischen Armee an. Aber er appeliert auch an die Welt, endlich etwas zu unternehmen, um dem Unrecht ein Ende zu machen. „Informieren Sie sich, um zu begreifen, wie die Dinge liegen. Ungerechtigkeit versteht man nur, wenn man die Geschichte dieses Landes kennt. Vor allem aber: es reicht jetzt! Tut was! Es ist eine moralische Verpflichtung etwas zu unternehmen!“.

Am 18. Januar 2009 wird der Krieg für beendet erklärt, jedoch bessert sich die Situation in Gaza kaum. Zwar konnte z.B. wieder Brot importiert werden, jedoch weder weitere Grundnahrungsmittel noch Material für den Wiederaufbau.

Im Zusammenhang mit der seit Jahrzehnten andauernden Vertreibung und Unterdrückung des palästinensischen Volkes war die Operation „Gegossenes Blei“ nur ein weiterer Schritt. Die Unterdrückung der Menschen ist allgegenwärtig, sei es auf dem Flughafen, an den Checkpoints und auf den Strassen. „Die Umgehungsstrassen dürfen in Palästina nur von israelischen Siedlern und israelischen Einwohnern benutzt werden, nicht von den Palästinensern..“. Die Radikalisierung einzelner als Folge dieser Demütigungen erscheint Pater Musallam als logische Folge.

Das Gespräch geht in der Folge auch auf die heutige Situation in Gaza und den Versuch Israels die Hamas zu entmachten und zu entwaffnen ein. Eine der wesentlichen Folgen ist die Verarmung in Gaza, unzählige Menschen wurden obdachlos, bis heute verkaufen die Menschen Schmuck und andere Gegenstände um ihre Familien ernähren zu können. Einem Wiederaufbau steht die israelische Politik entgegen, die nur die Einfuhr von Grundnahrungsmitteln gestattet. Die Flüchtlinge werden von der UNWRA unterstützt, doch reicht diese Unterstützung nur für zehn Tage. Auch das Schreckgespenst des Krieges ist nicht aus den Gedanken der Menschen verschwunden, nach Ansicht des Geistlichen bereiten sich die Menschen von Gaza psychologisch auf einen weiteren Krieg vor. Er prangert auch die fehlende Hilfe für die vielen traumatisierten Menschen, vor allem Kinder,an. Sein Vorwurf gilt aber auch der westlichen Welt, die es soweit hat kommen lassen. „Im Westen spricht man von den Rechten der Frauen. In Gaza besteht die Hälfte der Bevölkerung aus Frauen, und wer hilft ihnen? Welche Rechte haben sie? Und die Rechte der Kinder in Gaza?

Zur Verdeutlichung beschreibt Vater Musallam den Alltag einer Familie in der Hölle von Gaza. Eine Situation, die vor allem für die Frauen extrem schwierig ist.

„Wenn mein Volk träumen könnte“, so überschreibt N. Capovilla eines der letzten Kapitel dieses aufwühlenden Berichtes. Vater Musallam macht deutlich, dass es nicht nur die Palästinenser in Gaza und den Westbanks sind, die Unrecht erleiden. Vielmehr sieht er, dass diejenigen in der Diaspora oder mit israelischem Pass ebenso viele Probleme haben.Er ist der Ansicht, dass eine Zwei-Staaten-Lösung keine gute Lösung sein kann, man vielmehr zur Ausgangslage zurückkehren müsse, als alle miteinander lebten, Juden, Muslime und Christen. Eine Zwei-Staaten-Lösung werde die Palästinenser in drei nicht kommunizierende Teile spalten, in Gaza, in den besetzten Gebieten und die Palästinenser, die Bürger von Israel sind. „Als Christ und als Palästinenser bitte ich daher Israel, endlich die Lage zu ändern und nicht länger zu warten, weil die Zeit dagegen spricht.“ Er erzählt, dass sich die Jugendlichen einer Schulklasse darüber abstimmten, was jeder einzelne studieren oder erlernen wollte, um später zurückzukehren und den Aufbau der Heimat gemeinsam mit anderen voranzutreiben. Viele Jugendliche träumen jedoch auch davon, ins Ausland zu gehen und nicht mehr zurückzukehren. Bezogen auf die Träume der Frauen sagt er: „Ihr einziger kleiner Traum ist, heil davonzukommen.“

Aber Pater Musallam spart auch nicht mit Kritik an der Kirche. In einem „ Aufruf an die Kirche und die Welt“ sagt er, bezogen auf den Papst: „Wir hätten uns gewünscht, dass er eine klare Haltung einnimmt, protestiert und sagt, dass diese Palästinenser in ungerechter Weise unterdrückt werden.“ Er kritisiert, dass die Kirche im Gegensatz zu anderen Instutionen keine offiziellen Vertreter entsandt hat, um die Geschehnisse zu untersuchen. Er fragt sich, warum nie ein hoher Würdenträger gefragt hat, wie es der Gemeinde geht. Ein sichtbares Zeichen wäre sicher hilfreich gewesen. Auch erschiene es ihm sinnvoll, neben dem den jüdischen Mitbrüdern gewidmeten Karfreitagsgebet, an einem anderen kirchlichen Feiertag der Muslime zu gedenken. Er wünscht sich, dass Pfarreien im Ausland eine Patenschaft für eine christliche Familie im Heiligen Land übernäme oder dass es einen Jugendaustausch zwischen den Pfarreien gäbe. „Und niemand fürchte sich bei dem Gedanken, dass die Pfarrer und Christen im Heiligen Land Araber sind!“

Den Abschluss des Buches bilden einige Briefe von Vater Manuel Musallam sowie ein Bericht der Untersuchungsmission über die Verletzung der Menschenrechte in Gaza.

Allen die an der Lage in Gaza und der Situation der Bevölkerung interessiert sind, können wir dieses Buch, das die Ereignis aus der ungewöhnlichen Perspektive eines katholischen Geistlichen beleuchtet, nur zur Lektüre empfehlen und uns seinem Aufruf anschlieβenhttp://www.assoc-amazon.de/e/ir?t=diefreihe-21&l=as2&o=3&a=3889751865
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Es reicht jetzt! Tut was! Es ist eine moralische Verpflichtung etwas zu unternehmen!“.

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