Größtes, Längstes, Bestes

A bis Z In Hamburg wird am Sonntag gewählt. Aus diesem ­Anlass: Einblicke in eine reiche, brave, rebellische, besuchenswerte, arrogante, tolerante, wichtigtuerische Stadt

Autoknast

Was für ein unschönes Wort: Autoknast. "Kfz-Verwahrstelle", die offizielle Bezeichnung, klingt viel freundlicher. Sie verspricht, sich um die Autos zu kümmern und sie zu schützen gegen äußere und innere Feinde. In Wirklichkeit kümmert sich die Kfz-Verwahrstelle natürlich in erster Linie um das Geld der Autohalter. Es gibt in Hamburg kaum eine Institution, die ähnlich verhasst ist wie sie. Sollten sich die braven Bürger der Hansestadt eines Tages wider Erwarten zu einer Revolution entschließen, würde sie sich zuerst diesen Parkplatz im Industriequartier Rothenburgsort vorknöpfen, wo die abgeschleppten Autos der Stadt abgestellt werden. Zehntausende PKW im Jahren warten hier darauf, gegen eine bescheidene Bearbeitungsgebühr von rund 260 Euro wieder in die Freiheit entlassen zu werden. Die private Betreibergesellschaft weiß um die Popularität ihrer Einrichtung und schützt sie mit Stacheldraht und Überwachungskameras. Wie einen Knast eben. Selbst die Mitarbeiter sitzen hinter Sicherheitsglas. Vom Falschparker zum Schwerkriminellen ist es in Hamburg manchmal nur ein kleiner Schritt. Mark Stöhr

Chamäleon

Reeperbahn, siehe auch ➝ Chimäre

Chimäre

Sie wurde schon so oft totgesagt, dabei ist die Reeperbahn lebendig wie nie und Hamburg ohne sie undenkbar. Jedes Wochenende schieben sich hier die Massen vorbei an grell beleuchteten Sex-Shops, Huren und Imbissbuden, Table-Dance-Schuppen, Theatern, Clubs und Casino; wo sich der Geruch von Pommes mit dem billiger After Shaves mischt, und die anzüglichen Rufe der Koberer mit Musikfetzen. Was auf den ersten Blick aussieht wie eine Vergnügungsmeile, ist in Wirklichkeit viel mehr, ein Boulevard der Begierden und Begehrlichkeiten, Chimäre und ➝ Chamäleon zugleich, und somit die perfekte Projektionsfläche für unterschiedlichste Wünsche und Träume: Für die der (Sex)-Touristen, die gaffen wollen und ein bisschen grapschen; für Zocker und Freier, die auf den Jackpot hoffen oder einen Moment Erlösung; für die Jugendlichen, die saufen wollen bis zum Umfallen, oder einfach nur tanzen und flirten. Und für die gepflegten Erwartungen gutbürgerlicher Hanseaten, die mal wieder "ihr" Wachsfigurenkabinett besuchen wollen oder sich amüsieren in "Schmidt's Tivoli". Und hinter diesem Disneyland für Erwachsene verbirgt sich noch eine ganz andere Welt, beherrscht von Gier und Gewalt, in der man so ziemlich jede Droge und Waffe kaufen kann, oder auch einen Killer. Auch das macht ihre Faszination aus: Dass alles zu haben ist und fast alles möglich scheint auf diesem knappen Kilometer Grenzenlosigkeit, wo konventionelle Regeln und Normen nicht mehr gelten. Weil die Reeperbahn ihre eigenen Gesetze hat. Anette Lack

Fauna

Stolz streben die neuen Glas- und Alu-Fassaden in der HafenCity empor. Der ganz neue Stadtteil am Hafen, direkt gegenüber der Innenstadt ist Heimstatt eines Lebengefühls von Offenheit, Dynamik, Heimstatt und Arbeitsplatz erfolgreicher Bürger der Boomtown an der Elbe. Heimstatt auch von Larinioides sclopetarius, der Brückenspinne. Die Brückenspinne liebt das Wohnklima am Wasser. So wie der Hanseat lebt sie in großen Kolonien, und sie ist unverwüstlich. Larinioides sclopetarius zog vor drei, vier Jahren zeitgleich mit den ersten zahlungskräftigen Mietern in die Hafen-City (➝ Welthafenstadt). (Sie mochte das Licht, das aus den hohen Fenstern fiel. Jedes einzelne überzogen Dutzenden ihrer Artgenossen mit ihren Netzen. Ihr Kot glänzte hell auf Metall und Backstein. Das war dann nicht so schön. Und ließ sich durch die Investoren auch nicht lange geheimhalten. Diese sprachen über die guten Seiten: Die HafenCity als Forschungsfeld von Verhaltensbiologen und Spinnenexperten aus aller Welt! Ja, die Räume seien dank der Spinne gänzlich mückenfrei! Die Gentrifizierungsgegner in Hamburg aber haben ein neues Lieblingstier. Ulrike Winkelmann

Flora

Es sind gespenstische Szenen, die sich in stetiger Wiederkehr im Schanzenviertel abspielen. Links und rechts der zentralen Meile Schulterblatt die Szenegänger, die prosten und glotzen. Auf der Straße autonome Randalierer, die sich brüsten und motzen. Und überall Polizei, zu Fuß und in Wasserwerfern, die dem Schauspiel nach Stunden ein Ende machen. Im Auge der Ausschreitungen ist zumeist die Rote Flora, das einzige nicht-sanierte Gebäude der Straße. Hier war in seiner über hundertjährigen Geschichte schon vieles zu Hause: ein Konzertsaal, ein Varieté, ein Warenlager, ein Kino und ein Discounter. Als Ende der 80er Jahre ein Musical einziehen und ein Großteil der historischen Bausubstanz verschwinden sollte, regte sich Widerstand. Für das Musical wurde hierauf ein paar Ecken weiter ein eigenes Theater gebaut, die Neue Flora, die alte Flora wurde besetzt und 1989 zur Roten Flora ernannt. Das ist der Stand bis heute – zum Verdruss der Stadt, des inzwischen privaten Besitzers, der Immobilienspekulanten, der Geschäftsleute und der Sparkasse. Die liegt nämlich in Wurfweite und wird auch immer mal außer der Reihe entglast. MS

Hamburger

Nichts wird so wenig mit der Hansestadt identifiziert wie der Hamburger. Wie das weltweit bekannteste Schnellgericht zu seinem Namen kam, darum ranken sich viele Legenden. Fast jedes Städtchen in den USA, das Hamburg heißt, rühmt sich, der Geburtsort zu sein. Belege dafür haben allerdings die wenigsten vorzuweisen.

Tatsächlich spricht viel dafür, dass der Hamburger seine Wurzeln doch an der Elbe hat. Neuere Theorien besagen, dass deutsche Auswandererschiffe im 19. Jahrhundert nicht nur Emigranten, sondern auch gepökeltes Rindfleisch (eine ganz norddeutsche, unerlässliche Zutat für Labskaus) in die USA verschifften, das sich bald als Hamburg Beef oder Hamburg Steak auf den Speisekarten breit machte. Für die Weiterentwicklung zur unkaputtbaren Kombination aus Gummibrötchen und Bulette darf man daher ruhig mit dem Finger auf Amerika zeigen. Die Hansestädter übrigens haben sich, statt an den Hamburger, immer lieber an das "Rundstück warm" gehalten und meinen damit ein Brötchen mit einer Scheibe Braten, Bratensauce und Gewürzgurke inklusive. Jörn Kabisch

Multioptionsausflugziel

Die einstige Fischerdorfidylle Finkenwerders ist nur noch in einigen Straßenzügen erkennbar, dennoch wird es im Sommer ganz schön eng auf der Fähre 62 des Hamburger Verkehrsverbunds (HVV), die die Halbinsel ansteuert. Ein Großteil der Ü-60-Fahrgäste steigt in Finkenwerder aus, um von dort zum Obstkuchenessen ins Alte Land zu gelangen, dabei ist die sorgfältige Erkundung Finkenwerders lohnenswerter.

Der Finkenwerder Süderdeich mit seinen Reetdach-Häuschen ist eine der charmantesten Straßen Hamburgs, man kann hier, Privatgelände betretend, an der Süderelbe verweilen und sich von neugierigen Kühen einkreisen lassen, und anschließend mit dem Fahrrad in Richtung der Airbus-Werke Expeditionen in die Industriegegenwart unternehmen. Ein Abstecher zum Geburtshaus Johannes Kinaus ist möglich, besser bekannt unter seinem Schriftsteller-Namen Gorch Fock, nach dessen Romanfiguren zahlreiche Finkenwerder Straßen heißen.

Höhepunkt des Ausflugs: das Freibad Finkenwerder. Hier treiben sich keine Hipster rum wie im coolen Kaifu-Bad, hier regiert die lokale Kleinfamilie. Naturgemäß können Freibäder nur bedingt gegen Seen anstinken, das Freibad Finkenwerder aber verfügt durch seine Lage unmittelbar an der Elbe über einen unschlagbaren Vorteil: Man kann nicht nur beim Schwimmen Schiffe sehen, wer auf dem Drei-Meter-Turm steht, kann überdies den Schiffen winken. Und es wird zurückgewunken. Jens Kiefer

Mutter

Hamburgs beste Kneipe "Mutter" ist für zwei Dinge bekannt: die unglaublichen, in Nebelschwaden sich äußernden Rauchexzesse, die hier als Beiprodukt kultivierten Trinkens schon stattgefunden haben, und die hohe Dichte an Musikern, speziell solchen der lokalen Szene. Ob Letzteres jedoch in Zeiten der Abwanderung von Künstlern und Bands aus Hamburg nach Berlin auch für die Gegenwart noch gilt, ist fraglich. Die "Mutter" selbst bleibt gelassen. Auch bei der Frage, ob sie nun das Szenewohnzimmer Nummer eins ist oder nicht. Ihr ist es wurscht, ob auf ihren Sofas Musiker aus Lieblingsbands und kommende Indiegrößen sitzen oder nicht. Hier wird kein Aufsehen gemacht. Das ist das Wunderbare an der "Mutter": Sie ist einfach nur da, ein Kann-aber-muss-nicht-Raum. Man muss hier nicht rauchen, trinken, fachsimpeln und versacken. Ist man erst mal drin, will man es allerdings meistens. Jens Kiefer

Superlativ

Dem Zugezogenen bringt jeder Tag in Hamburg einen neuen Superlativ. Auf die Auskunft, man sei neu in der Stadt, reagiert der Hamburger stets mit etwas Mitleid – das ganze bisherige Leben habe man nicht in Hamburg verbringen dürfen?! – und einem Trost: Man solle sich umsehen, gleich dort stehe ein weiteres Größtes, Längstes, Meistes, Bestes der Welt!, oder jedenfalls Europas. Meiste Brücken, beste Docks, größte Baustelle: HafenCity (➝ Fauna) – aber gar nicht nur alles in Wassernähe.

So sei etwa das Alstertal-Einkaufszentrum im feinen Poppenbüttel die erste Mall nach US-Vorbild in Deutschland gewesen, gebaut vom Versandhaus-König Werner Otto. Erneut sei eine gute Idee zwar woanders ersonnen, so doch zuerst von einem Hanseaten erkannt worden, Ottos Shopping-Center-Unternehmen ECE sei im übrigen das erfolgreichste... und so fort. Bald aber trifft der Neu-Hamburger Menschen aus Berlin, Amsterdam, China, und sie berichten von Brücken, Docks, Baustellen in ganz anderen Dimensionen. Und dann das: Das erste Shopping-Center wurde in Nürnberg-Langwasser gebaut, 1969, ein Jahr vorm Alstertal-Einkaufszentrum. Nürnberg! Wer länger in Hamburg lebt, dem wird jeden Tag ein Superlativ geraubt. uwi

Umdrehen

Ob ein A-Promi ihren Weg kreuzt oder ein Mann mit einem glöckchenverzierten Lampenschirm auf dem Kopf, Hamburger drehen sich nicht um. Sie registrieren das Ganze zwar aus dem Augenwinkel, erkennen den Prominenten und identifizieren auch den Lampenschirm als einen solchen, vielleicht werden sie sogar halblaut zu ihrer Begleitung sagen: "War das nicht eben...?" oder "Hast Du den gesehen?" (Wobei ihre Miene völlig ausdruckslos bleibt). Aber sie werden sich nie umdrehen, um der betreffenden Person nachzusehen. Viele Berühmtheiten, die aus anderen Städten zuziehen und daran gewöhnt sind, dass man sie überall erkennt und sich nach ihnen umdreht, reagieren verwirrt und manchmal sogar wütend auf diese angebliche hanseatische Arroganz. Oft ziehen sie dann bald wieder weg, zurück in die Städte, in denen sie sich mehr gewürdigt fühlen, nach München oder Berlin.

Dabei handelt sich bei dem strikten Vermeiden des Umdrehens nicht um Arroganz, sondern um Toleranz; eine Art Hamburger "Laissez-faire", geprägt von der Überzeugung, dass jeder tun und lassen kann, was er will, solange er dabei niemandem wehtut und man selber dabei nicht mitmachen muss. Wenn es Teil einer Persönlichkeit ist, dass sie berühmt ist, oder wenn es zu ihrem persönlichen Ausdruck gehört, sich Lampenschirme über den Schädel zu stülpen, dann gehört das nach hanseatischer Auffassung zu ihrer Privatspäre, und die ist hier heilig. Und indem die Hamburger sich nicht umdrehen, achten sie sie. Anette Lack

Unterhosen

Der stilbewusste Hanseat kann sehr diskret demonstrieren, dass er mit der Kulturpolitik des Senats nicht einverstanden ist. Der so genannte Long John, der den Körper vom Kragen bis zu den Knöcheln einhüllt und auf der Brust den Spielplan des Theaters trägt, ist Teil der Kollektion des Labels Herr von Eden für Das Schauspielhaus, mit der zur „modischen Gegenwehr“ gegen die Sparpolitik des Senats aufgerufen wird. Qua Farbe (crème) und Material ("95 Prozent feinste Viskose, 5 Prozent Elastan") scheidet er als Kampfmontur vis à vis der Wasserwerfer aus. Doch als Botschafter des „united we stand“ der Kulturschaffenden der Stadt ist er ideal. Wenn einer so etwas tragen kann, dann nur Ahlhaus-Herausforderer Heinz Strunk. Christine Käppeler

Welthafenstadt

In der Präambel der Landesverfassung heißt es, Hamburg sei eine „Welthafenstadt“, die „eine ihr durch Geschichte und Lage zugewiesene, besondere Aufgabe zu erfüllen hat“. Der Titel "Tor zur Welt" (➝ Superlativ) lastet gewollt schwer auf den Schultern der Bürger. Noch schwerer, seit das prollige Berlin wieder 3,5 Millionen Einwohner, Rotterdam den umsatzstärksten Containerhafen Europas und der HSV seine besten Tage hinter sich hat. Um aber nicht den Eindruck aufkeimen zu lassen, man wäre ins zweite Glied gerutscht, wurde etwa öffentlichkeitswirksam aus dem guten, alten 106er kurzerhand ein "Metro"-Bus, der allerdings immer noch nach Hamm fährt – in einen Stadtteil, den Zivildienstleistende liebevoll als Elefantenfriedhof bezeichnen. Aber was die Großen können (Metrobusse haben), kann man hier schon lange – schönen Gruß auch ans Opernhaus in Sydney (➝ Zweitausenddreizehn). Dass aber weniger manchmal auch mehr sein könnte, ahnt man derweil in der Schanze (➝ Flora), wenn man auf der Piazza Galao Kaffee schlürfend darüber fachsimpelt, dass weder der Golden Pudel Club noch der FC St. Pauli hätten ausbauen sollen. Jan Jasper Kosok

Zweitausenddreizehn

Der Witz an einem Wahrzeichen ist, dass es von überall her sichtbar ist. Insofern ist der Platz für die Elbphilharmonie im Herzen der Hamburger Hafencity (➝ Fauna) gut gewählt. Sie ist ein Blickfang für die vielen Hafentouristen und ein Willkommensgruß für die ankommenden Kreuzfahrtschiffe. Auch die Pendler, die mit der S-Bahn aus dem verlotterten Süden ins Zentrum kommen und abends dorthin zurückkehren, können sie gut sehen. Jedenfalls das, was schon fertig ist. Die Elbphilharmonie ist ein ewiger Torso und beständiger Anlass für Tobsuchtsanfälle. Wie gerne würden die Stadtoberen ihr einstiges Lieblingskind im Stile Christos einpacken lassen und erst wieder aufschnüren, wenn es ausgewachsen ist. Doch das dauert noch. Nach derzeitigem Stand ist die Eröffnung für 2013 geplant, die Rede war einmal von 2010. Die Gesamtkosten werden dann bei rund 530 Millionen Euro liegen und nicht bei den ursprünglich veranschlagten 77 Millionen. Über so viel Missmanagement schütteln nicht nur die Pendler mit ihren speckigen Krägen den Kopf. Sie werden nur jeden Tag daran erinnert. MS

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