Legendäre Gespräche

A-Z Interviews Anne Sinclair verliebte sich, Günter Gaus forschte zur ­Person, André Müller ließ sich rühren, Alice Schwarzer verbal verführen: das Lexikon der unvergessenen Interviews

Attacke

Von 1986 bis 1996 waren die Tempo­jahre. Ein Lifestyle-Magazin namens Tempo wollte den Journalismus neu erfinden. Die Regeln des Handwerks waren den Machern egal, Objektivität galt nichts, Originalität bedeutete alles. Das hatte Folgen fürs Fach, bis heute. Einer der Tempo-Autoren hieß Maxim Biller. In jeder Ausgabe schrieb er seine "100 Zeilen Hass", eine Kolumne, die bis an die Schmerzgrenze polemisch und doch unterhaltsam war. Mit der gleichen Arroganz und Angriffslust interviewte er Prominente der letzten Jahre der Bonner Republik. "Liebten Sie Hitler?", fragte er Harald Juhnke, und Peter Glotz: "Sind alle Politiker Spießer?" Was er danach aufschrieb, passte nicht in die Form von Frage und Antwort. Denn dieser Interviewer hatte keine Fragen, er wollte keine Stichworte geben und auch nicht zuhören. Es galt, mit der Regel zu brechen, dass gute Gespräche Nähe schaffen – oder Verständnis. Das Allzumenschliche war Biller zuwider. Also ging er auf Distanz. Immer. Jörn Kabisch

Disput

Im Frühjahr 1929 kam es in Davos zu einem philosophischen Zweikampf ersten Ranges. Martin Heidegger und Ernst Cassirer duellierten sich in einem öffentlichen Streitgespräch. Es war ein Treffen der Stars: Heidegger hatte zuvor Sein und Zeit vorgelegt, Cassirer die ersten zwei Bände seiner Philosophie der symbolischen Formen. Beide verkörperten einen Typus der Zeit. Während der Kulturphilosoph Cassirer als Verteidiger der Republik auftrat, war Existenzdenker Heidegger ganz der konservative Revolutionär. Den Aufhänger bildete die Frage nach der richtigen Kant-Interpretation, doch ging es in der Debatte über bürgerliche Kultur und individuelle Freiheit um mehr, es kündigte sich eine Zeitenwende an. Als das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ Juden aus dem öffentlichen Dienst verbannte, war Cassirer bereits emigriert – und Heidegger wurde Universitätsrektor. Tobias Prüwer


Mit dem Grundprinzip der Sesamstraße („Wer nicht fragt, bleibt dumm“) mischte Sokrates im 5. Jahrhundert vor Christus Athen auf. Er lief über den Marktplatz und verwickelte die Bürger der Polis in lange Dialoge, in denen er durch Penetranz und naive Fragen so ziemlich jede Gewissheit seiner Gesprächspartner erschütterte. Anders als die philosophische Konkurrenz – die Sophisten, die ihre Schüler im Gespräch belehrten – wollte Sokrates durch Fragen sein Gegenüber zur Erkenntnis führen. Er selbst betonte immer wieder, nur über eine Gewissheit zu verfügen: „Ich bin mir jedenfalls bewusst, dass ich keine Weisheit besitze, weder groß noch klein.“

Das Neue war, dass die Erkenntnis nicht vorher feststand, sondern in einem ergebnisoffenen Prozess erst gefunden werden musste. Mäeutik nannte Sokrates seine Methode daher auch: Hebammenkunst. Heute trifft man sich nicht mehr auf dem Marktplatz eines Stadtstaates, sondern im Netz – aber die Hoffnung ist geblieben, dass der Austausch von Für und Wider im Dialog mitunter doch zu einer neuen Erkenntnis führt. Jan Pfaff


Wem es um die Ehre geht, die muss ins Fernsehen. Alice Schwarzer wusste das früh. Und erschuf instinktiv ein eigenes Format für dieses Anliegen: den Zweifrauen-Schlagabtausch. 1975 stritt sie mit einer gewissen Esther Vilar im WDR. Kampfbegriffe wie Zynikerin, Verräterin („des eigenen Geschlechts“), Selbstverleugnerin (dito) waren bereits gefallen. Da holte Schwarzer zum finalen Schlag aus: „Wenn Sie in Ihren Büchern das Wort Frau ersetzen würden durch das Wort Jude oder Neger, dann wären Ihre Schriften reif für den Stürmer.“ Kongenial dabei die Tatsache, dass Vilar (Der dressierte Mann) nicht nur Maskulistin, sondern jüdischer Abstammung ist. Der Skandal war im Kasten. Und Schwarzer fast berühmt. Als die große Unterhaltungskünstlerin das Ganze 2002 mit einer gewissen Verona Feldbusch wiederholen wollte, ging es nur um Brains und Bodys. Und es war auch ein Mann dabei. Susanne Lang

Gespräche mit Goethe

Für Goethe waren es neun Jahre mit Johann Peter Eckermann, für Eckermann neun Jahre für Goethe. Ganz gleich, welchen Stellenwert der eine im Leben des anderen besaß – Nutzen oder Verehrung –, unterm Strich bleiben Eckermanns Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Goethe war für Eckermann der „Leitstern“, Eckermann der „Papagei Goethes“ (Heine). Doch trotz Eckermanns glühender Verehrung Goethes sind die Gespräche aus den Jahren 1823 bis zu dessen Tod 1832 ein umfassendes Porträt des Schriftstellers und seiner Haltung – zur Moral, zur Religion, zur Zeit und ihren Genossen. Eckermanns Schriften sind dabei nicht nur Protokolle, sondern romanhafte Bilder aus den letzten Lebensjahren Goethes, der die Gespräche zwar autorisierte, sie aber nicht zu Lebzeiten veröffentlicht wissen wollte. Die ersten zwei Bände veröffentlichte Eckermann 1836, ein dritter Band entstand 1848. Conrad Menzel

Kunst

David Bowie führte Mitte der neunziger Jahre für die britische Zeitschrift Modern Painters eine Reihe exklusiver Interviews mit Künstlern wie Julian Schnabel, Jeff Koons oder Tracy Emin. Im Herbst 1994 besuchte er den damals bereits hochbetagten Balthus in dessen Schweizer Heimat. Schnell wird klar, dass Bowie ein großer Verehrer des stets kontrovers diskutierten Malers junger Mädchen ist und über ein beeindruckend fundiertes, epochenübergreifendes Kunstwissen verfügt. Seine Bewunderung hindert ihn jedoch nicht daran, ein spannendes Gespräch auf Augenhöhe zu führen. Egal ob es um Warhol, englische Volkslieder, die Gefahr des Scheiterns oder Schokolade geht, der Leser fühlt sich wie das neugierige Mäuschen in der holzverkleideten Stube des Chalets, das sich fest vornimmt, bald die Werke des heiligen Augustinus zu studieren ... Sophia Hoffmann

Liebe

Sie galt als unbestechlich. In der Sendung 7 sur 7 des Senders TF 1 nahm Anne Sinclair (Foto) die politische Elite ihres Landes ins Visier. Wer mächtig war oder werden wollte, kam zu ihr ins Studio. Jacques Chirac oder François Mitterrand, Bill Clinton, Mutter Teresa, Madonna. Anne Sinclair war schön, kompetent und ein bisschen autoritär. Einmal, 1989, war ihr Dominique Strauss-Kahn als Experte zugeschaltet – und es war Liebe auf den ersten Blick. Sie war hingerissen von dem umtriebigen Charmeur. Und er von ihr. Er sei ein unverbesserlicher Schürzenjäger, gestand er. Zwei Jahre später heirateten die beiden. Als ‚Monsieur Sinclair‘ 1997 Finanzminister wurde, gab sie die Sendung auf, wegen Interessenkonflikten. An ihm hält sie noch fest. Maxi Leinkauf

Rührung

Dieses Interview beginnt mit üblen Beschimpfungen und gipfelt in unnachahmlicher Zärtlichkeit. André Müller eröffnet sein Gespräch mit Elfriede Jelinek mit einer Aufzählung an Schmähungen, zu der sich die Gegner der Literaturnobelpreisträgerin bemüßigt fühlten: „Nihilistische Neurotikerin“ (Vatikan), "dümmster Mensch der westlichen Hemisphäre" (Martin Mosebach). Wenig später, sagt Müller zu Jelinek: "Sie rühren mich." Da hatte sie gerade über ihre unerfüllbare Sehnsucht, einmal nach New York zu reisen, gesprochen. Über ihre Angst, von anderen Menschen auch nur angesehen zu werden, über ihren kompletten Rückzug aus dem öffentlichen Leben.

"Meine Grundausstattung sind Valium, Betablocker und Antidepressiva", sagt Jelinek. "Ich wage es kaum zu sagen, aber ich finde, Sie sind eine schöne Frau", sagt Müller. Und: „Sie sind furchtbar, ich kann mit Ihnen kein professionelles Interview führen“. André Müller ist im April 2011 gestorben, dieses Interview ist eines seiner schönsten. Sebastian Puschner


2003 erschien in der taz ein Interview mit dem SPD-Politiker Olaf Scholz – ohne Antworten. Die Redaktion hatte sie geschwärzt, weil Scholz sie umgeschrieben hatte. Das gesprochene Wort gilt, anders als etwa im angelsächsischen Raum, in Deutschland nicht für gedruckte Interviews. Politiker, Schauspieler, auch Journalisten, die interviewt werden, bestehen meist darauf, ihre Zitate zu autorisieren. Was an sich in Ordnung ist, da bei einer Kürzung und der Verschriftlichung mündlicher Kommunikation Missverständnisse entstehen können (und die journalistische Neigung zur Zuspitzung kaum zu leugnen ist). Was aber oft genug zur Beschönigung genutzt wird.

Was tun? Eine Idee: Die Tonbänder müssen mitveröffentlicht werden. Journalisten könnten keine Zitate aus dem Kontext reißen; ihr Gegenüber müsste ein Printinterview behandeln wie eines fürs Fernsehen. Dann bliebe, was gesagt ist, gesagt. Schwärzen unnötig. Klaus Raab

Verhör

Statt Antworten nahm er ihnen Beichten ab: Coco Chanel, Alain Delon, Edith Piaf, Georges Simenon, Charles Bukowski, Woody Allen. Sie entkamen ihm nicht. Georg Stefan Troller wollte hinter die Fassade des Menschen blicken, er suchte nach dessen Verwundungen. An der Riviera erzählte ihm der Schriftsteller Somerset Maugham von seiner Homosexualität: „Ja, ich machte mir immer vor, ich wäre 10 Prozent homosexuell und 90 Prozent normal, während es in Wirklichkeit umgekehrt lag.“

Troller war als Wiener Jude in die USA emigriert und kehrte nach dem Krieg als GI nach Europa zurück. Dort war er für die Gefangenen-Verhöre zuständig. Durch sie habe er seine Interview-Technik gelernt. Mit den TV-Sendungen Pariser Journal und Personenbeschreibung wurde Troller in Deutschland berühmt. Als er einmal die amerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis fragte, ob sie abnehmen könnte, was sie da gerade auf dem Kopf trug (einen Afro), war das Verhör jedoch zu Ende, bevor es begann. ML


Günter Gaus gefiel es, jene kleine Episode zu erzählen, mit der Fernsehgeschichte geschrieben wurde. Ende 1989, mitten in der DDR-Wendezeit, habe ihn Hans Bentzien, Generalintendant des Deutschen Fernsehfunks (DFF), gefragt, ob er seine Sendung Zur Person nicht in Berlin-Adlershof aufleben lassen wolle. Da habe er keine Minute gezögert und umgehend zugesagt. So gab es im Jahr 1990, als schon das Ende des Ostfernsehens besiegelt war, Gesprächsporträts von der neuen und letzten DDR-Prominenz Lothar de Maizière, Gregor Gysi, Friedrich Schorlemmer, Rainer Eppelmann ... Für die Sendung selbst gilt das immer gleiche Muster: Erst die Titelmusik aus Beethovens Ritterballett, dann spricht G. G. einen kurzen Prolog und ist fortan für 44 Minuten nur noch als Hinterkopf im Bild – bis für manchen der unerbittlich nachgrabend und nachforschend Interviewten der erlösende Satz fällt „Gestatten Sie eine letzte Frage ...“

Als der DFF Ende 1991 abgewickelt ist, springt der ORB in Potsdam ein und übernimmt die Sendung für sein Programm. Und noch etwas hat der begnadete Anekdotenerzähler Gaus gern erwähnt. Seine Fragen schrieb er auf die Pappen aus den Strumpfhosen-Packungen seiner Frau. Lutz Herden

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