A-Z Jahresrückblick Überschlagen sich die Ereignisse? Dreht sich die Welt schneller? Ägypten, zu Guttenberg, Fukushima, bin Laden: Schon jetzt ist deshalb Zeit für einen Rückblick auf das Jahr
Die Männerfußballbundesligasaison endet mit der Ermittlung eines Siegers: Borussia Dortmund wird Deutscher Meister, was wegen der Weltbeschleunigung natürlich schon drei Wochen vor Saisonende feststeht.
Noch während die Saison läuft, wird daraufhin der Wechsel des Dortmunder Spielers Sahin nach Madrid bekannt. Noch davor wird der Wechsel des Nürnberger Spielers Gündogan nach Dortmund bekannt. Nürnberg und andere auf Abstiegskampf gebuchte Klubs wie Mainz und Hannover belegen am Ende vordere Plätze. Die Meisterschaftskandidaten Bremen, Schalke, Stuttgart und Wolfsburg schmieren ab. Medialer Höhepunkt der Saison ist trotz aller Überraschungen der Rauswurf Louis van Gaals als Trainer des FC Bayern München. Das muss ma
ls als Trainer des FC Bayern München. Das muss man den Bayern lassen: In der Erregungsmeisterschaft bleiben sie ungeschlagen – besser als gar keine Nachrichten sind fürs Geschäft immer noch schlechte. Klaus RaabErster grüner Ministerpräsident Vor dem 27. März 2011 galt Baden-Württemberg als besonders konservativ geprägtes Bundesland – nach dem 27. März immer noch. Mit Winfried Kretschmann wurde zwar erstmals ein Grüner als Ministerpräsident vereidigt, aber einer, der keinen CDU-Wähler erschreckt. Schließlich ließ Kretschmann jeden wissen, dass er schon mal Schützenkönig war, als bekennender Katholik sonntags im Kirchenchor singt und gern Erwin Teufel zitiert.Wer nun miesepetrig anmerkt, den grünen Umbruch hätte er sich weniger konservativ vorgestellt, sollte einen Moment innehalten. Eine 58 Jahre währende CDU-Regentschaft zu beenden, ist keine Kleinigkeit. Ein Manko hat Kretschmann dennoch. Er ist Schwabe, nicht Badener. Aber wie sagt man im Ländle? Nobody isch perfect. Jan PfaffFDP-AbsturzPhilipp Rösler hat nach seiner Wahl zum FDP-Chef die Geschichte vom Frosch erzählt: Werfe man den in heißes Wasser, hüpfe er sofort wieder heraus. Setze man ihn dagegen ins kalte Nass und steigere langsam die Temperatur, „wird er nichts merken und nichts machen“. Bei den Liberalen verlief das Jahr bisher anders herum: Als Guido Westerwelle im Januar zum Dreikönigstreffen anreiste, war der Druck im FDP-Kessel bereits hoch. Der Außenminister war seiner Partei längst nicht mehr die „Freiheitsstatue“, eher ein „Klotz am Bein“. Die Jungliberalen taten sich zunächst schwer, der Volte mit einem Nachfolger auf die Sprünge zu helfen. Bis nach den Frühjahrswahlen (➝Erster grüner Ministerpräsident) kein Zögern mehr war und Rösler ins kalte Wasser springen musste. Die FDP, aus Mainzer Landtag und Stuttgarter Kabinett geflogen, drehte am Personalkarussell. Ihren besten Redner hat die Partei in Rostock mit sieben Minuten Beifall verabschiedet. Der neue Frosch bekam neun Minuten. Der eine saß am Ende, wo der andere nun sitzt: im Umfragekeller. Tom StrohschneiderFukushima An einen Satz haben wir uns seit dem Atomunfall in Fukushima gewöhnt: „Die Lage im havarierten AKW ist weiterhin nicht unter Kontrolle.“ Es spielt sich seit dem Erdbeben vom 11. März eine schleichende Katastrophe ab: Druck und Hitze in mehreren der sechs Reaktoren halten an. Tonnen von radioaktivem Wasser stehen in den Druckbehältern. Weiter fließt radioaktive Brühe in den Pazifik. Dieser Tage wurde mindestens ein neues Leck im Reaktor 3 gemeldet. Der Staat steht dem AKW-Betreiber Tepco mit Milliarden bei, um die Opferentschädigung zu garantieren. Das Krisenmanagement wirkt immer noch behelfsmäßig, hinter dem Zeitplan für die Aufräumarbeiten liegt man weit zurück.Nun soll die oberste Bodenschicht im verstrahlten Gebiet teilweise abgetragen und 50 Zentimeter tief vergraben werden. Die evakuierte Sperrzone im Umkreis von 20 Kilometern durfte von Anwohnern kurz betreten werden, damit sie Habseligkeiten holen können. Ob sie je zurück können, ist fraglich. Darüber will die Regierung 2012 entscheiden, Experten bezweifeln es aber. Tobias PrüwerGottschalk, Thomas Zum Feiern war am 30. Geburtstag von Wetten, dass..? im Februar niemandem zumute. Stattdessen verkündete Thomas Gottschalk seinen Abschied zum Ende des Jahres. Der schwere Unfall eines Kandidaten in der vorangegangenen Sendung liege wie ein Schatten über der Show, sagte er. Das Motiv klang glaubhaft. Ist es aber das einzige? Wetten, dass..? ist ein Auslaufmodell. Es fehlt ihm an Tempo und Temperament. Bei der bislang letzten Ausgabe im April stürzte die Quote auf ein Allzeittief. Dabei wirkte Gottschalk so gelöst wie lange nicht mehr. Es schien, als würde eine große Last von ihm fallen. Noch eine Sommerausgabe auf Mallorca und zwei Best-of-Sendungen muss der 61-Jährige hinter sich bringen, dann darf er endlich in die Wetten, dass..?-Rente. Die Show hoffentlich mit ihm. Mark StöhrKate und William Mehr als zwei Milliarden Menschen sollen das Spektakel vor dem Fernseher verfolgt haben. Hunderttausende vor dem Buckingham-Palast stoppten die Zeit mit, als sich das Paar auf dem Balkon zweimal – viel zu kurz – küsste. Die Hochzeit von Prinz William und Kate Middleton Ende April war weniger ein Märchen in Weiß als eine gigantische Medieninszenierung. Nur „von Gottes Gnaden“ reicht als Legitimation längst nicht mehr für den königlichen Hofstaat. Die Queen mokierte sich Lippenlesern zufolge, als sie aus der Westminster Abbey trat, über die Kutschengröße. Royals von heute müssen eben auf den Putz hauen, um gesehen zu werden. Doch auch das Nicht-Gesehen-Werden ist teuer. Das Paar flittert zur Zeit angeblich auf einer einsamen Seychellen-Insel. Geschätzte Kosten: 4.500 Euro, pro Nacht. MSKindleFetische kommen auf den Markt, das weiße iPhone etwa. Oder neue elektronische Lesegeräte, die zweite Version des iPads und die deutsche Version des Kindle-Readers. Unzufrieden über die Existenz der neuen Produkte, auf die die Welt lange gewartet hat – Monate, herrjeh! –, sind lediglich einige archaische Randgruppen: Buchhändler, Kulturwissenschaftler, Verleger, Leser, Käufer, Heimat- und Sachkundelehrer, Feuilletonisten. Viele andere stehen den Produkten völlig gleichgültig gegenüber. Der Rest aber ist ab-so-lut hin und weg. raaKnut ist totEin Schatten lastete auf seinem Schicksal. Nun ist Knut tot. Protokoll seines Lebens. 5.12.2006: Knut erblickt im Berliner Zoo das Licht der Welt – also einen Tag vor Nikolaus. Die Mutter nimmt ihn nicht an. Sein Zwillingsbruder stirbt. Erst Brutkasten, dann Handaufzucht – Pfleger Thomas Dörflein überwacht Knut rund um die Uhr. 23.3.2007: Knut wird der Öffentlichkeit vorgestellt. Knut wird ein Star. 22.9.2008: Pfleger Dörflein stirbt. Juli 2010: Knut muss sich Käfig mit drei erwachsenen Bärinnen teilen. Aus Zucht-ehrgeiz! Fieses Frauen-Mobbing! Knut: isoliert. 19.3.2011: Knut verendet – vor Besucheraugen. Nicht nur Kinder geschockt. Knut war erst vier! 22.3.2011: Der Zoo schiebt eine Hirnerkrankung vor. 1.4.2011: Nun heißt es: ertrunken. Seine Fans wissen, es war Mobbing-Mord! Nun soll ihm ein Denkmal gesetzt werden. TPOsama bin Laden ist tot Navy Seals, Elitekämpfer der US-Marine, erschießen im Rahmen der „Operation Geronimo“ das bekannteste Gesicht von al-Qaida in seinem Haus in Abbottabad/Pakistan. So endet am Morgen des 2. Mai die langjährige Suche der USA nach bin Laden, der unter anderem hinter den Anschlägen vom 11. September 2001 stecken soll. Seine Leiche wird nach einem Gen-Test im Arabischen Meer seebestattet.Schnell entzündet sich eine Debatte über die Rechtmäßigkeit des Einsatzes. Gab es eine Abmachung zwischen Pakistan und den USA, die den Zugriff auf bin Laden auf pakistanischem Territorium gestattete? Und hätte man bin Laden, korinthenkackerisch rechtsstaatlich betrachtet, nicht den Prozess machen müssen, statt ihn an Ort und Stelle zu erschießen? Und dann wäre da noch diese Preisfrage: Was ändert sich durch bin Ladens Tod? Nach dem 11. September 2001 hatte es geheißen, seinetwegen sei „nichts mehr wie zuvor“. Könnte jetzt, da er tot ist, also nicht alles wieder beim Alten sein? Nichts da: Bis vor kurzem gab es Terrorwarnungen, weil Osama bin Laden lebt. Seit dem 2. Mai 2011 gibt es sie, weil er nicht mehr lebt. raaRevolution Arabischer Frühling im Winter. Westliche Revolutionspaten hatten auf Iran getippt. Dann aber traf es eine Region, die in Lethargie zu verdämmern schien, autoritären Obristen sowie dem Verdacht ausgeliefert war, nur zu gern der islamistischen Versuchung zu erliegen. Der arabische Frühling mitten im Winter sollte jedoch kein religiöser Aufruhr sein. Er kam einem sozialen Dammbruch gleich, der in Tunesien begann. Dort verstarb am 4. Januar der Studienabgänger und Kleinhändler Mohamed Bouazizi, der sich zwei Wochen zuvor auf dem Markt von Sidi Bouzid selbst angezündet hatte, bankrott und verzweifelt. Von da an waren die Tage des Staatschefs Ben Ali gezählt, auch die von Mubarak in Kairo. Ein Flächenbrand brach aus, der Jemen, Jordanien, bald Bahrain, Libyen, Syrien erreichte. Dieser Aufstand hatte nicht den einen Kopf, den man abschlagen konnte. Umso mehr war er jung, kreativ, unersättlich und unberechenbar. Noch ist wenig entschieden. Es bleibt von diesem arabischen Jahr mindestens die Erinnerung an die Kraft einer Volksbewegung, die soviel bewirkte, dass sie nur sich selbst unterliegen konnte. Lutz HerdenSong Contest Ein 18-jähriges Mädchen, das sich angeblich nur Zuschauerkarten für TV Total im Internet bestellen wollte und dabei zufällig auf einen Casting-Aufruf klickte, wurde nach 27 Niederlagen in Oslo zur Heilsbringerin eines ganzen Landes. Angetrieben von ihrem Entdecker Stefan Raab erklärte Lena anschließend, ihren Titel in Düsseldorf verteidigen zu wollen. Es verwunderte allerdings, mit welcher Ernsthaftigkeit vor Düsseldorf selbst seriöse Medien die Möglichkeit eines erneuten Sieges diskutierten. Als gelte das eherne Gesetz der TV-Unterhaltung nicht mehr, dass des Zuschauers verwöhntes Auge stets nach Neuem schielt.Der Eurovision Song Contest präsentierte sich am vergangenen Samstag modernisiert und vom schlimmsten Schlager-Kitsch entrümpelt. Stefan Raab habe mit seinem auf den Mainstream zielenden Musikgeschmack den Grand Prix „entschwult“, klagte sogleich die taz. Aber der Wettbewerb führte erneut auf höchst unterhaltsame Weise die unterschiedlichsten kulturellen Vorlieben europäischer Länder vor Augen. Und allen wurde warm ums Herz, als mit Aserbaidschan ein kleines und besonders exotisch wirkendes Land gewann. Stefan Raab macht sich nun bald wieder auf die Suche. Und Lena, mittlerweile fast 20, fährt erst mal in Urlaub. Sophia HoffmannTicker Echtzeitjournalismus kommt 2011 zu seiner bislang größten Blüte. Es gibt die Textform des Live-Tickers nicht nur, wie üblich, zu Fußballspielen. Auch abgeschlossene Ereignisse wie die „Operation Geronimo“ gegen ➝ Osama bin Laden werden in Tickerform nacherzählt: „4:52 Uhr Joe Biden fingert am Rosenkranz herum.“ Unlive, aber in gefühlter Echtzeit sind wir immer dabei. Das Gefühl der Atemlosigkeit hat auch damit zu tun. raazu Guttenberg, abgeschrieben Der Aufstieg zum „Bürgerkönig“ war die Geschichte des vergangenen Jahres. Der Sturz des „KT“ dauerte 2011 nur zwei Februarwochen: Erst nannte er den Vorwurf, abgeschrieben zu haben, „abstrus“, 48 Stunden später enthielt seine Dissertation „fraglos Fehler“, drei weitere Tage danach stand der CSU-Politiker nur noch zu „dem Blödsinn, den ich da geschrieben habe“. So hielt es zunächst auch die Kanzlerin, die „keinen wissenschaftlichen Mitarbeiter berufen“ haben wollte. Anfang März kapitulierte der Bild-Superstar dann vor den „Grenzen seiner Kräfte“ – und dem Aufschrei der Öffentlichkeit. Hat das Internet den Minister besiegt? Vielleicht. Wird er zurückkehren? Eher nicht. Mit seinem Namen bleibt verbunden, was längst anderen promovierten Amtsinhabern schlaflose Nächte bereitet: Die kollektive Netzjagd auf jene Versuchung, der Plagiatoren erliegen. Als bloße Distinktionskosmetik im Politikgeschäft hat der Doktor ausgedient. TS
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