„Überall Entpolitisierung“

Freitag-Salon Im Gespräch mit Jakob Augstein wirbt Harald Welzer dafür, die Demokratie wieder als ein Anliegen aller zu begreifen
Ausgabe 26/2013

Jakob Augstein: Herr Welzer, kann man eigentlich in die Zukunft sehen?

Harald Welzer: Ja klar. Andernfalls hätten wir uns hier gar nicht getroffen. Das war ja schon vor ein paar Wochen verabredet. Wir agieren immer vor dem Hintergrund einer erwartbaren Zukunft.

Aber diese Zukunft lässt sich nicht absolut planen. Die Wachstumsverteidiger argumentieren damit und sagen: „Wir wissen noch gar nicht, was uns heute für Lösungen für die Probleme von morgen einfallen.“

Das stimmt immer. Man kann die Argumentation aber auch umdrehen. Die Geschichte lehrt, dass es immer unerwünschte Nebeneffekte bei der Einführung neuer Technologie gibt.

Dass es aber der Menschheit heute im Ganzen besser geht als vor 50 Jahren, das würden Sie nicht bestreiten?

Natürlich nicht.

Das ist gut zu wissen, denn wir reden über die Frage, welche Form von Wachstum sinnvoll ist oder wann wir uns von dem Dogma verabschieden müssen.

Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Für die westlichen Gesellschaften, die seit vielen Jahrzehnten Wachstumswirtschaft betreiben, mag der Höhepunkt vielleicht überschritten sein. Hier bringt Wachstum nicht noch mehr Nutzen in einem lebensweltlichen Sinne, also Glück, Wohlbefinden, medizinische und soziale Versorgung. In sogenannten Schwellenländern aber sind die „Segnungen“ noch nicht so deutlich fühlbar. In beiden Fällen wächst jedoch auch die soziale Ungleichheit mit an.

Die Nachrichten aus China oder Indien über das Entstehen einer neuen Mittelschicht erfreut Sie also nicht?

Dagegen wird man nichts haben können, genauso wenig wie dagegen, dass es Menschen besser geht und erst recht nicht, wenn diese Menschen am Existenzminimum oder darunter leben. Aber die Frage ist, womit wird das eigentlich erreicht? Wir haben es mit mehreren Variablen zu tun, wenn man über wirtschaftlichen Aufstieg von Gesellschaften spricht. Da spielen Emanzipation, Bildung, Verstädterung und auch Wachstum eine Rolle, aber Letztgenanntes ist nicht die einzige Variable.

Das paradoxe Begriffspaar „nachhaltiges Wachstum“ lässt sich auch nicht dadurch zusammenführen, indem man Wachstum anders definiert und sagt, das ist nicht mehr Expansion von Gütermengen, sondern Intensivierung sozialer Beziehung und Geldwertschöpfung ohne Ressourcenverbrauch?

Dann ergibt der Begriff ja keinen Sinn. Wachstum, wie es ökonomisch verstanden wird, ist quantitativer Zuwachs. Expansion. Für Ihre Definition brauche ich einen anderen Begriff. Ich finde Kultivierung beispielsweise angebrachter.

Als deutscher Idealist würde ich sagen, das Bewusstsein bestimmt das Sein. Wenn meine Begriffe neu geprägt werden, sorge ich auch dafür, dass meine Umwelt sich dem anpasst.

Diese Auffassung enthält alle idealistischen Irrtümer. Verhältnisse folgen aber keinen Werten. Das Gegenteil ist der Fall. In einer hochindividualisierten neoliberalen Gesellschaft haben wir hochindividualistische Werte. „Unterm Strich zähl ich“ heißt das bei der Postbank. Die konservative Seite will immer dann Werte-Diskussionen führen, nachdem sie die Fundamente für eine Werte-Entwicklung ruiniert hat.

In Ihrem Buch ist von Politik gar nicht so viel die Rede. Was ist denn mit der Politik?

Ich begreife Politik nicht als Anliegen von dafür zuständigen Personen, sondern demokratietheoretisch als Angelegenheit aller. Und da würde ich Colin Crouch mit seinem Büchlein Postdemokratie Recht geben, dass wir in den westlichen Demokratien spätestens seit der Wiedervereinigung eine Entpolitisierung seitens der Zivilgesellschaft zu verzeichnen haben. Man meint, Politik ist das, was Politiker machen. Alle anderen übernehmen alles andere. Insofern ist das Buch eine Erinnerung daran, dass Politik keineArbeitsteilung ist, sondern von allen gelebt werden muss.

Ihr Buch handelt dagegen stark von der Individualisierung von Verantwortung und der Rückeroberung von Handlungsmöglichkeiten. Sie erzählen darin lauter kleine Widerstandsgeschichten. Aber die ändern im Großen doch leider nichts, weil sie die Schwelle nicht überschreiten.

Wo ist denn die Schwelle?

Die liegt nicht darin, dass ich in Kreuzberg eine kleine Verkehrsinsel begrüne. Das reicht nicht.

Das halte ich für grundfalsch. Die Erfindung der Gemeinschaftsgärten in modernen Städten geht auf ein unglaubliches Maß sozialer Intelligenz zurück. Sie erkennt, dass die Stadt temporäre Räume zur Verfügung stellt, die ich auch zum Nahrungsanbau verwenden kann und dazu, eine neue Sozialität im Quartier herzustellen. Die Idee ist so gut, dass sie sich innerhalb von vier Jahren weltweit ausgebreitet hat. Gemessen an den Innovationen der Autoindustrie finde ich das gigantisch groß.

Ich kann mir vorstellen, dass ein anderes gesellschaftliches Klima zu einer anderen Politik führt. Aber dazwischen liegt doch ein langer Transformationsprozess?

Die Zeitkategorien sind schwer zu kalkulieren. Ich würde mich an der Geschichte sozialer Bewegungen orientieren. Nehmen Sie die Frauen- und Bürgerrechtsbewegung. Das sind lange Prozesse, die immer wieder unglaubliche Beschleunigungen erfahren. Soziale Bewegungen sind Experimente mit offenem Ausgang.

Wir alle hängen aber doch von globalen Unternehmen ab, von großen Datenfirmen und Finanzkonzernen. Die Politik schützt sie. Auf der anderen Seite steht der Rückzug des Individuums in neue soziale Räume. Ich sehe die Verbindung zwischen diesen Welten nicht mehr. Das ist das Unheimliche unserer Gegenwart.

Ich glaube nicht, dass sie komplett getrennt sind. Individualisierend ist nur die Möglichkeit der Handlungsspielräume. Die Leute marschieren ja nicht wie Reinhold Messner allein durch die Arktis, sie finden neue Formen der Vergemeinschaftung. Die Frage ist, wie sich die wiederum politisch formatieren. Und das kann man nicht theoretisch beantworten. Den objektiven Machtunterschied lösen sie dadurch selbstverständlich nicht auf. Durch die informationellen Industrien wie Google und Facebook ist eine gruselige Qualität in das Spiel der politischen Machtausübung gekommen. Die Kaltschnäuzigkeit der Okkupation jeder Form von Privatheit unter vollkommener Umgehung jeglicher datenrechtlicher Standards ist faschistoid und sehr bedenklich. Ich mag mir keine nicht-demokratische Gesellschaft vorstellen, die über Facebook und Google verfügt. Dagegen ist der Nationalsozialismus eine Idylle.

Die Unterschiede, was demokratische und nicht-demokratische Gesellschaften angeht, sind inzwischen ja fließend, oder?

Weiß ich nicht. Wir haben immerhin eine stabile rechtsstaatliche Ordnung, eine demokratische Kontrolle.

Sie haben gesagt, dass Sie nicht wählen gehen werden.

Was hat das jetzt damit zu tun?

Das zeigt, dass Sie angesichts der drängenden Fragen den demokratischen Politikprozess offenbar für irrelevant halten.

Ich habe in einem Text versucht, das „Ende des kleineren Übels“ zu diskutieren. So lautet auch der Titel. Ist das Argument noch tragfähig, wenn keine der zur Wahl stehenden Parteien die zentralen Zukunftsfragen diskutiert? Niemand spricht über die Strukturveränderung durch diese Form der hypermächtigen Unternehmen, keiner thematisiert die Generationenungerechtigkeit. Da frage ich mich, warum ich aus der Soße etwas wählen soll? Das gilt aber nur für die jetzige historische Situation, in der es nichts zu verhindern gilt. In Finnland oder Holland würde ich nicht so argumentieren, dort gibt es rechtspopulistische Parteien, die man verhindern muss.

Was ist mit Gewalt als Mittel des Widerstands?

Die Frage stellt sich in dem Augenblick nicht, in dem die rechtsstaatlichen Ordnungen noch in Kraft sind. Da halte ich Gewaltausübung nicht für ein legitimes Mittel. In autokratischen oder diktatorischen Staaten verhält es sich völlig anders. Dort existiert kein anderes Mittel, gegen Repressionen vorzugehen.

Harald Welzer, geboren 1958, ist Soziologe und Sozialpsychologe. Neben seiner Tätigkeit als Honorarprofessor ist er Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung Futurzwei, die alternative Lebens- stile und Wirtschaftsformen fördern will. Zuletzt erschien Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand im Verlag S. Fischer

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