Es bleibt mehr als nur Glut

G20-Tagebuch Die Gipfelproteste werden reduziert auf die Krawall-Nächte – und waren so viel mehr. Ein Resümee

„Du gehst zu G20? Viel Glück, pass auf dich auf“, war der Kommentar ausnahmslos aller, denen ich erzählt hatte, dass ich nach Hamburg unterwegs war. Inspirierende Tage oder schöne Begegnungen hat mir niemand gewünscht.

Wer den G20-Gipfel und die Proteste dagegen nur anhand der Berichterstattung verfolgt hat, muss den Eindruck haben, Hamburg sei eine Bürgerkriegszone gewesen. Aber es gibt ja auch die anderen Seiten des Gipfels. Dass die Hansestadt voll war mit spannenden Menschen aus der ganzen Welt, die für ökologische Nachhaltigkeit und eine gerechtere Weltordnung eintreten wollen, kam meist in den Randspalten der Zeitungen vor. Auf den Titelseiten prangen Fotos schwarzer Gestalten vor einer brennenden Barrikade. Eine vermummte Gestalt im Feuerschein macht eben mehr Quote als ein Meer aus Transparenten, dessen Größe und Vielfalt sich sowieso nicht abbilden lässt.

Auch bei friedlichen Protesten und Aktionen waren Polizisten sehr präsent. Die Randalierer auf der Schanze dagegen haben sie gewähren lassen. Hier haben Autonome rund zehn Geschäfte ausgeräumt und zerstört, ein Supermarkt wurde in Brand gesteckt. Dass die Polizei viele Stunden lang nicht eingriff, ist ein Skandal. Es war ja nicht so, dass keine Polizisten in der Stadt gewesen wären. Das Viertel war umstellt von Einsatzwagen und Wasserwerfern, während es in Scherben gelegt wurde. Der Eindruck drängt sich mir auf, dass diese Schäden strategisch geduldet wurden. Zumindest lenkten die Bilder der brennenden Barrikaden von Themen und Inhalten der übrigen Gipfelgegner ab.

Can Gango und Cem C. haben hier einen Imbiss und einen Kiosk und haben die Plünderungen beobachtet. „Polizisten haben hier zugesehen. Wir haben sie gefragt, warum sie nichts tun. Sie sagten, sie hätten keinen Einsatzbefehl und dürften ihre Posten nicht verlassen“, erzählt Cem. „Die Randalierer kommen von überall hierher und machen unsere Stadt kaputt“, ergänzt Gango. „Denen geht es nicht um Politik, die gehen nicht auf die Demos“.

Die 99 Prozent der Protestierenden, die nicht gesehen werden

Die Polizei schätzt, es seien hier 1.500 Radikale beteiligt gewesen. Im Zug der größten Kundgebung am Samstag liefen dagegen 50.000 (nach Polizeiangaben) bis 75.000 (laut Veranstalter) Menschen mit, zeitgleich protestierten zusätzlich etliche tausend auf einer Demo an der Elbe. Sie forderten von den G20 Arbeiterrechte und Klimaschutz, die Umverteilung von Reichtum und einen fairen Welthandel oder mehr Rechte für Minderheiten. Alle fühlen sich von den G20 und deren Politik nicht vertreten. Sie forderten Angela Merkel auf, die Proteste als Teil des Gipfeltreffens zu akzeptieren.

Die meisten sind Pazifisten. Eine Gruppe prächtig gekleideter "Bille-Piraten" droht damit, den Neoliberalismus zu kapern: „Piratenbräute machen Beute und verteilen‘s an die Leute“ singen sie im Chor. Die Piratinnen Januschka und Inken aus Hamburg-Bergedorf lieben das Singen als Protestform, „weil es gute Laune macht und den Protestierenden die Angst nimmt“.

Mit ihren Liedern werden sie viel weniger gehört als die Plünderer auf der Schanze. Immerhin einige wenige Medien haben sich nicht am Krawallticker-Klein-Klein à la „Wasserwerfer vor der Roten Flora“ beteiligt. Die Schweizer Wochenzeitung WOZ druckt über die Randale-Nacht am Freitag einen leeren Rahmen ab mit der Bildunterschrift: „Krawallbilder gibt’s anderswo genug“.

Die Krawallbilder waren eben nur ein Teil der Proteste. Es gab auf dem Gegengipfel und bei den Protesten auch unzählige schöne Begegnungen, eine Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität, viel Kreativität, Mut und Improvisationsgeist. Diese Eindrücke leuchten stärker und nachhaltiger als die Feuer auf den Barrikaden.

Friederike Grabitz und Christoph Kammenhuber berichten für den Freitag von den Protesten gegen den G20-Gipfel und dem alternativen "Gipfel der globalen Solidarität". Alle Beiträge rund um das G20-Treffen in Hamburg finden Sie hier

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