Wollen Köhler und Wolfensohn nicht das Gleiche wie Sie?

ANTI-IWF-PROTEST Warum erregen verhungernde Kinder nie soviel Aufmerksamkeit wie eingeschlagene Schaufensterschreiben? - Ein Augenzeugen-Bericht

Pink und Silber sind die Farben für den einen Teil des Marsches durch Prag, die anderen ergeben sich durch blaue Monturen oder das Weiß der Overalls. Tanzend und lachend bewegt sich der Zug um eine Samba-Truppe herum durch die Innenstadt. Die Bewohner an den Fenstern grinsen. Sind dies die Menschen, die den Prager Schulkindern zwei Wochen Ferien außer der Reihe verschafft haben, denen Rentner subventionierte Ausflüge verdanken, die dafür gesorgt haben, dass Medikamente, Verbandsmaterial und Lebensmittel auf Vorrat gehalten werden sollten?

Plötzlich lautes Krachen. Gas steigt auf. Die eben noch Tanzenden fliehen zurück, von Polizisten mit Schlagstöcken verfolgt. An die Wand gequetscht gerate ich zwischen die Polizeilinien. Eine Person liegt gefesselt am Boden. Ich erkenne meine Mitbewohnerin - offenbar war sie wegen ihres großen Rucksacks am Leichtesten festzuhalten. Hilflos sehe ich zu, wie sie weggeschleppt wird, als mir ein Reporter des tschechischen Privatfernsehens ein Mikrofon vors Gesicht hält: Wissen Sie, wie viele verletzte Polizisten es gibt?

Verletzte Polizisten? Fragen Sie doch selbst nach, ich sehe hier nur, wie Menschen ihre Gesundheit riskieren, um für ihre Überzeugung einzutreten, kürze ich das Interview ab.

Blau wird zum Synonym für Gewalt. Von den in Blau gekleideten Demonstranten sollen Molotowcocktails geworfen und Polizisten mit Stöcken angegriffen worden sein.

International Herald Tribune: Fühlen Sie sich verantwortlich für das, was heute passiert ist?

Wer fühlt sich verantwortlich für die 19.000 Kinder, die heute sterben, weil Geld für Kreditrückzahlungen verwendet wird, anstatt für medizinische Hilfe und Lebensmittel? Die INPEG - ein Zusammenschluss tschechischer und internationaler Gruppierungen - bedauert ausdrücklich, dass es zur Gewalt gegen Menschen und Sachen kommt. Doch warum erregen verhungernde Kinder nie soviel Aufmerksamkeit wie eingeschlagene Schaufensterschreiben? Auch die Toten, die es in den vergangenen Tagen bei den Protesten in Bolivien gab, scheinen weit weniger Schlagzeilen wert.

Warum sind Sie nach Prag gekommen?

Rückblende, die Tage vor den Protesten. Drei Kameras aus dem Medientross sind auf eine Frau gerichtet, die gerade einen Baum hochklettert. Die Erde aus Pappmaché mit Schorn steinen auf der einen und Bäumen auf der anderen Seite wird zum am meisten fotografierten Objekt im Puppet-Workshop von Prag. Einige hundert Aktivisten sind bereits zwei Wochen vor den Protesten in die tschechische Hauptstadt gereist, um sich ausreichend vorbereiten zu können. Es soll koordinierte, gewaltfreie Aktionen mit dem Ziel geben, die Delegierten von IWF und Weltbank solange zu blockieren, bis sie ihre undemokratischen Institutionen aufgelöst haben. Eine Reform halten die Aktivisten angesichts der realen Machtverhältnisse für utopisch.

Dagegen wird bei INPEG Demokratie gelebt und jede Entscheidung im Konsensprinzip getroffen, so hat sich eine Struktur mit verschiedenen Untergruppen und entsprechenden Vernetzungstreffen entwickelt. Allerdings wissen die Amerikaner immer wesentlich besser, wie Versammlungen effizient zu leiten sind, ohne Hierarchien aufkommen zu lassen. Den meisten Europäern ist das zu strukturiert, und die Osteuropäer ziehen sich oft spontan aus Debatten zurück. Die Unterschiede in den nationalen Organisationsweisen sind deutlich, doch wird auch von einander gelernt.

Warum sind Sie nach Prag gekommen?, fragt die ARD.

Ich kam hierher, weil ich nicht bereit bin, die in einer Sekunde Verhungernden als Kollateralschaden einer Gesellschaft hinzunehmen, die unablässig von sich behauptet, sie sei die Bestmögliche.

Der WDR: Wollen Köhler und Wolfensohn nicht das Gleiche wie Sie?

Sollen wir es als Erfolg verbuchen, dass wir Horst Köhler und James Wolfensohn armutsorientierte Rhetorik abbringen? Natürlich macht sich das gut bei offiziellen Anlässen - wofür sind die sonst da? Neu ist derartiges Vokabular keineswegs. Auch unter dem Weltbankpräsidenten McNamara gab es schon einmal die Ära der »Armuts orientierung«. Was derzeit geschieht, ist eine Umbenennung der berüchtigten Strukturanpassungsprogramme in »Armutsreduzierung und Wirtschaftswachstumserleichterung«, verbunden mit Modifizierungen, die es erleichtern, die nationale Politik der betroffenen Staaten zwingender zu kontrollieren.

Stimmen denn die Beschreibungen aus den Gefängnissen?

Das ZDF: Wir haben gehört, dass die aggressivsten Personen aus der Bundesrepublik in das Abschiebelager Balkova gebracht worden sind. Stimmen denn die Beschreibungen aus den Gefängnissen?

Damit den Verhafteten geglaubt wurde, mussten die »Zugeführten« nach ihrer Entlassung ihre Hemden hochziehen, so dass die Journalisten geprellte Rippen und Blutergüsse in Augenschein nehmen konnten. Die Berichte decken sich weitgehend, Unterschiede gibt es nur im Maß der Brutalität. Ein Drittel der Internierten bekam kein Wasser, zwei Drittel durften nicht schlafen - nahezu jedem Verhafteten wurden Telefongespräche verweigert. 38 Prozent wurden geschlagen, darunter der Israeli Joshua Tzarfati mindestens eine Viertelstunde lang, er war gefesselt und lag auf dem Boden. Andere mussten stundenlang mit erhobenen Armen an der Wand stehen, und die Beine nach hinten weg, und noch mehr nach hinten weg - und wer zusammenbricht, wird unter Prügeln wieder aufgerichtet. Ein Franzose hat beobachtet, wie jemand an seinen Armen aufgehängt wurde, als Reaktion darauf, dass er vor Schmerzen schrie. Frauen mussten sich ausziehen und zur Freude der Wärter Turnübungen vollbringen. Eine Österreicherin sprang während des Verhörs aus dem ersten Stock. Sie wird acht Monate liegen müssen.

RTL: Was wollen Sie tun, um nicht auf Gewalt reduziert zu werden?

Dieses Interview wird unterbrochen durch Robert Stewart aus dem kanadischen Finanzministerium, der sich einmischt: die Prager Polizei sei unverhältnismäßig hart vorgegangen. »Der redet sich um Kopf und Kragen«, flüstern die Umstehenden, als das Kamerateam auf ihn umschwenkt.

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