Frühling

Kehrseite I Jeder Frühling beginnt auf die gleiche Art und Weise. Jeder Frühling beginnt mit den Pastellfarben in den Regalen und dem Gefühl, zu dick zu sein. ...

Jeder Frühling beginnt auf die gleiche Art und Weise. Jeder Frühling beginnt mit den Pastellfarben in den Regalen und dem Gefühl, zu dick zu sein. Und dann kommen die Krokusse zu früh heraus und erfrieren und alle sagen: "Schaut mal, die Krokusse sind schon draußen, jetzt kommt der Frühling." Und all die Frauen, die es irgendwie raushaben, mit ihren Körpern aus dem Haus zu gehen, trotz der Pastellfarben, die so schrecklich auftragen und denen man doch nicht entrinnen kann, die sitzen in den Cafés mit Decken und Heizstrahlern, trinken lauwarmen Milchkaffee und seufzen, weil der Frühling ihnen den Kreislauf der Welt vor Augen führt: Wachsen und Vergehen.

Aber dann auch immer wieder Neubeginn. Und die Modezeitschriften feiern den neuen Optimismus. Und die Vögel feiern die ersten Sonnenstrahlen. Und die Männer werden ganz blöd auf Pastellfarben. Immer alles gleich im Frühling. Es sei denn, man verliebt sich. Dann denkt man: Dieser spezielle Frühling ist etwas ganz Besonderes. Aber nicht, weil man so dumm ist, auf den Frühling hereinzufallen, sondern durch den Zufall, dass beides zusammenfällt. Und man denkt, man kann dem Frühling durch die Liebe ein neues Gesicht geben, eine neue Wahrheit oder so.

Ich sitze in einem Café und trinke grünen Tee. Ich möchte mindestens ein Kilo entschlacken bis Sascha kommt. Er kommt immer zu spät. Vielleicht schaffe ich es tatsächlich. Warme Sonnenstrahlen kämpfen mit der eisigen Grundkälte, die noch in der Luft liegt. Aber das Café hat Heizstrahler und über meinen Beinen liegt eine Wolldecke.

Sascha kommt von hinten und schiebt meinen mintgrünen Schal zur Seite, um mir den Hals zu küssen. Kalte Luft zieht in meinen Pullover. "Hallo Sascha", sage ich. Und dann reden wir. Und küssen uns. Und ich fühle mich wie ein gut aussehendes Mädchen. Aber die Krokusse, die während eines verliebt geteilten Stücks Philadelphiatorte aus der Erde geschossen sind, erinnern mich an den Kreislauf der Welt. Und daran, dass ich mich jeden Frühling verliebe. Und dass es immer auf die gleiche Art und Weise aufhört.

Ich gehe nach Hause und trainiere auf dem Stepper.

Friederike Trudzinski (*1982) lebt in München. Zuletzt erschien im Freitag 06/2006 ihre Kurzgeschichte Marcia.


Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden