Es war eine Aktion, die sich vermutlich nur ein spleeniger englischer Lord ausdenken konnte. Im Sommer 1939, wenige Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, fanden zehntausende Bürger des Deutschen Reiches ungewöhnliche Post in ihren Briefkästen. Sie kam aus Großbritannien und als Absender unterzeichnete ein Mann, der den wenigsten Empfängern zuvor bekannt gewesen sein dürfte: Stephen King-Hall. Dahinter verbarg sich ein pensionierter britischer Marine-Offizier und Journalist, der schon in Großbritannien mit seinem wöchentlich verschickten K-H News-Letter zigtausende Abnehmer gefunden hatte.
Die Briefaktion nach Deutschland war hingegen ungleich brisanter. Die deutschen Leser erfuhren aus ihren Zeitungen gewöhnlich nichts, was nicht dem Geschmack der Nazi-Machthaber und vor allem dem von Propagandaminister Joseph Goebbels entsprach. In dem Brief, den sie nun in ihren Händen hielten, konnten sie hingegen nachlesen, was das Ausland wirklich über ihren Führer Adolf Hitler und die Politik des Reiches dachte. King-Hall war alles andere als diplomatisch: „Ich nehme an, daß es schrecklich für Sie klingt, aber ich muß Ihnen sagen, daß Hitlers Wort heute in England recht geringen Kurswert hat.“ Es bestehe deshalb nicht die geringste Aussicht, dass Großbritannien noch einmal Deutschland entgegenkomme, solange das Vertrauen in Deutschlands Wort nicht wieder hergestellt sei. Sollte Deutschland hingegen einen Krieg wagen, den es auf lange Sicht vermutlich verlieren würde, drohe ihm ein Friedensvertrag, „mit dem verglichen der Vertrag von Versailles ein Kinderspiel ist“. Aber eigentlich schreibe er den Brief, schrieb King-Hall am Anfang, „weil ich, wie Sie, den Frieden will“.
Die genauen Hintergründe der Aktion erläuterte King-Hall in seinem 1942 erschienenen Buch Total Victory. Er habe im Mai 1939 Polen und Deutschland besucht und sei erschrocken darüber gewesen, wie erfolgreich es den Nazis gelungen sei, die Ängste vieler Deutscher über die Annexion der Tschechoslowakei zu zerstreuen. Er sei damals mehr denn je davon überzeugt gewesen, der deutschen Propaganda etwas Gleichwertiges entgegensetzen zu müssen. „Ich beriet mich daher mit einigen Freunden, von denen ein paar mit Deutschland sehr gut vertraut waren, und wir entschieden uns dazu, einen Privatkrieg mit Goebbels zu inszenieren.“
"Plumpe Bauerfänger-Briefe"
Es war alles andere als klar, wie die Nazis darauf reagieren würden. Eine erste Notiz der Aktion fand sich in der Wiener Ausgabe des Völkischen Beobachter vom 7. Juli. Eine Woche später ging die Propagandamaschinerie jedoch zum Gegenangriff über. Auf ihren Titelseiten berichteten der Völkische Beobachter und die meisten deutschen Zeitungen am 14. Juli 1939 in fetten Lettern über „plumpe Bauernfänger-Briefe im Auftrage der britischen Regierung“. Denn „besonders gut unterrichtete und eingeweihte Kreise haben nämlich festgestellt, daß Herr Stephen King-Hall gar nicht der Privatmann ist, für den er sich ausgibt“. In Wirklichkeit unterstehe er einer neugegründeten Propagandaabteilung des Außenministeriums und sei von dieser beauftragt worden. Mit dem Zweck: Das „deutsche Volk gegen seine Führung aufzuhetzen“ und „eine defaitistische Stimmung zu erzeugen“.
Die Verbindung King-Halls mit Außenminister Viscount Halifax war eine platte Propaganda-Lüge, die auch Exilblättern wie der Pariser Tageszeitung wenig glaubhaft vorkam. In der Exilzeitung hieß es wenige Tage nach der spektakulären „Enthüllung“: „Wie sehr aber King-Halls Brief gewirkt hat, ersieht man daraus, dass der Reichspropagandaminister Goebbels sich selbst bemüht hat, auf sechs Spalten des riesigen Formats des Völkischen Beobachters eine ‚Antwort an England‘ zu erteilen.“ Die Exilautoren freuten sich dabei vor allem, dass Goebbels sich „glücklicherweise“ dazu verleiten ließ, „einiges aus dem Briefe King-Halls wörtlich zu zitieren, und so werden immerhin die 600.000 Zwangsbezieher des Völkischen Beobachters erfahren, was bisher nur die 50.000 wussten“. Nach Ansicht des Historikers Aaron Goldman hat Goebbels den Brief jedoch zu nutzen gewusst, um seine antibritische Pressekampagne weiter zu befeuern und die britische Regierung in die Defensive zu bringen.
Mit King-Halls erstem Brief und der Antwort Goebbels hatte jedoch die Propagandaschlacht erst begonnen. Bis zum Ausbruch des Krieges ließ der Lord vier weitere Schreiben folgen und ging sogar noch einen Schritt weiter. Mitte August veröffentlichte er auf eigene Kosten im Inseratenteil mehrerer englischer Tageszeitungen Goebbelsʼ „Antwort an England“, da sich deutsche Regierungsstellen offenbar darüber beschwert hatten, dass die englischen Zeitungen diese Antwort nicht gebührend genug gewürdigt hätten. King-Hall verband die Veröffentlichung mit der Hoffnung, dass auch die deutsche Presse einen seiner Briefe komplett abdrucken würde.
Das war aber alles andere als im Sinne der Nazis. Wie King-Hall in Total Victory beschreibt, setzte die Gestapo stattdessen alle Hebel in Bewegung, um möglichst viele Briefe schon vor der Zustellung abzufangen. „Ich hatte sichere Informationen darüber, dass in Aachen alle Röntgenapparate für die schnelle Kontrolle von Massen an Briefen auf einem Förderband zusammengezogen wurden.“ Um zu verhindern, dass die Briefe dennoch herausgefischt würden, habe er sie in ganz verschiedenen Umschlägen aus unterschiedlichen europäischen Ländern abschicken lassen, schrieb King-Hall. Aus seiner Sicht sei der Propagandacoup ein voller Erfolg gewesen: In nur zwei Monaten hätten ihn mehr als 8000 Pressebelege aus aller Welt erreicht. Und das, obwohl ihn die Aktion weniger als 4000 Pfund gekostet hätte.
Britische Bitte um Presse-Waffenstillstand
Von Anfang an hatten der Baron und die britische Regierung abgestritten, gemeinsam hinter der Aktion zu stecken. Das britische Außenministerium soll diese zunächst als „Verschwendung von Zeit und Geld“ betrachtet haben. In Gesprächen mit dem Auswärtigen Amt in Berlin wurde diese Ablehnung noch deutlicher. Nach Aufzeichnungen von Staatssekretär Ernst von Weizsäcker spielten die Briefe in einem Gespräch mit dem Botschafter Nevile Henderson eine wichtige Rolle. „Henderson erklärte, er sei von London mit der Absicht hierher gekommen, über eine Art von Presse-Waffenstillstand mit uns zu reden. Da passe es nun schlecht, daß durch die von Henderson selbst auf das stärkste kritisierten Hetzbriefe des Commanders King-Hall eine neue und begreifliche Presseschlacht entbrannt sei“, hielt Weizsäcker Mitte Juli 1939 fest.
Dem Commander wurde schließlich die zweifelhafte Ehre zuteil, als einzige Person neben Mussolini in Hitlers Antwort auf das britische Ultimatum vom 3. September 1939 erwähnt zu werden: „Die im Auftrag der Britischen Regierung von Herrn King Hall uns mitgeteilte Absicht, das deutsche Volk noch mehr zu vernichten als durch den Versailler Vertrag, nehmen wir zur Kenntnis und werden daher jede Angriffshandlung Englands mit den gleichen Waffen und in der gleichen Form beantworten“, hieß es in dem Schreiben, mit dem Hitler einen Stopp des Angriffs auf Polen ablehnte. Aus der Presseschlacht war ein wirklicher Krieg zwischen Deutschland und England geworden.
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