Politik ohne Metaphysik

Rezension Das Buch des Philosophen Michail Ryklin über "Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution" ist ein Versuch, der Stalin-Nostalgie in seiner russischen Heimat beizukommen

Der Kapitalismus platzt. Das hat wohl angesichts der herrschenden Finanzkrise mancher gedacht oder gehofft: Einige besonders Hoffnungsfrohe hatten schon das Jubilate angestimmt. Mit den explodierenden Kredit- und Börsenblasen und der einbrechenden Konjunktur bekommt nun erneut Marx Konjunktur, der solches prophezeit hat: Sein berühmtestes Buch, Das Kapital, ist ausverkauft und muss nachgedruckt werden, Lesekreise bilden sich.

Dass der Kapitalismus am Ende sei, das hat damals, vor achtzig Jahren in eben der Weltwirtschaftskrise, die zurzeit täglich zitiert wird, auch so mancher gedacht und sich spätestens dann Marx und dem Kommunismus zugewandt. Darunter waren auch westliche Intellektuelle, die nach der Oktoberrevolution die Sowjetunion besuchten, um sich ein Bild von den dortigen Zuständen zu machen und darüber zu berichten: sympathisierende Revolutionskorrespondenten, die bei ihrer Anreise an den Kommunismus als weltverändernde Kraft glaubten. Beides: die gläubigen Intellektuellen und den Kommunismus als ihre Religion, hat der russische Philosoph Michael Ryklin, der im letzten Jahr den Buchpreis für europäische Verständigung der Leipziger Buchmesse erhielt, im Blick.

Paradoxerweise ist der ‘Kommunismus als Religion’, wie Ryklin zunächst zeigt, dabei abhängig von der Gottesleugnung als einer der philosophischen Grundlagen des Materialismus: Bolschewismus ist seinem Verständnis nach Politik ohne Metaphysik, erst recht religiöse. Genau dies aber, so Ryklin, bereitet der Verhimmelung des Kommunismus den Boden; denn nun tritt die Politik selbst an die Stelle dessen, was in der bisherigen Geschichte den Menschen Trost und Hoffnung geboten hatte: die versprochene Unsterblichkeit der Seele und damit ein Lebenssinn jenseits des einfachen körperlichen Überlebens bis zum Tod.

So wird – das ist die Hauptthese von Ryklins Buch – die theologische Religion zur politischen, der kirchliche "pomp and circumstance" zum sowjetischen; das „Opium des Volkes“, das nach Marx die Religion darstellt, bleibt, nur soll sich das Volk jetzt nicht mehr am fernen Jenseits, sondern am zukünftigen Diesseits träumend berauschen. Als Kritik oder als Interpretationsmodell hat dann allerdings Ryklins – nicht neue – Bezeichnung des "Kommunismus als Religion" wenig Kraft, da sie ihn nicht von anderen politischen Religionen unterscheidet; er selbst stellt ihn ausdrücklich neben Faschismus und Nationalsozialismus.

Ein Grund zum Glauben

Zudem erhebt sich die Frage, ob sich die Übernahme derjenigen Tricks und Kniffe der Politik, die die Religion "erfunden" hat, nicht auch bei anderen Politikformen als den erwähnten findet: Sind die der existierenden Demokratien wirklich so grundlegend anders, oder finden sich nicht auch hier vergleichbare, wenn auch vielleicht nicht so extensiv und theatralisch inszenierte Events und Phänomene?

Der Kommunismus, so argumentiert Ryklin mit dem französischen Politologen Raymond Aron, ist auch deshalb eine Religion, weil er das leistet, was eine Religion zu leisten hat: Millionen Menschen einen Grund zum Glauben und damit einen Lebenssinn zu vermitteln, der sie sogar zum höchsten Opfer, dem ihres eigenen Lebens, zu befähigen weiß. Das klingt überzeugend, wird aber eben auch von anderen Theorien und Weltanschauungen als dem Kommunismus geleistet; insofern wären alle Ideengebäude im Sinn dieses Kriteriums "Religionen", weil sie Sinn spenden – genaugenommen sogar eine Philosophie, die "Sinn" ablehnt.

In den massenwirksamen Riten und Zeremonien von Religion und Bolschewismus werde dasselbe geopfert, nämlich das Individuum; die KP, der Ryklin eine militärische Organisation von Beginn an attestiert, habe die Menschen allein als „Material“ betrachtet, aus dem eine glückstrahlende Zukunft und ein neuer Mensch zu formen sei. Im Interesse dieses Zieles sei sie bereit gewesen, selbst das über Bord zu werfen, was die gefühlshafte Bindung an den Kommunismus eigentlich ausmacht: das Beharren auf Moral in Politik und Geschichte.

Umso interessanter ist die Frage danach, warum aufgeklärte linke religionskritische Intellektuelle aus dem europäischen Westen sich so angetan zeigten von einer politischen Kultur, die in äußerst peinlicher Art und Weise die religiöse Praxis nachvollzog. Die Reaktion auf die Erfahrungen in der Sowjetunion untersucht Ryklin an den Berichten Bertrand Russells, Walter Benjamins, André Gides, Arthur Koestlers, Lion Feuchtwangers und Bertolt Brechts.

Einer der Gründe für die Faszination der Westler durch die Oktoberrevolution findet sich in den sozialen Verwerfungen der zwanziger Jahre in Europa: Die Mittelschichten hatten in der Weimarer Republik durch die Weltwirtschaftskrise eine massenhafte starke Verarmung zu beklagen; für viele ihrer Mitglieder in Deutschland, besonders für die Intellektuellen, drängte sich jetzt die Entscheidung zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten auf.

Selbsthass des Bürgertums

Hinzu tritt, wie Arthur Koestler attestierte, als Motiv der „Selbsthass des Bürgertums“, der durch die sich stetig verschlechternde wirtschaftliche Lage der kleinbürgerlichen Intellektuellen noch verschlimmert wurde; so erscheint der Kommunismus als doppelter Ausweg: Wie das Bekenntnis zum Proletariat zur Heilung der seelischen Wunde beitrug, die durch den Verstoß aus der bisherigen Schicht aufgesprungen war, so verhalf es auch zu neuer Lebensenergie durch den Einsatz für eine Gesellschaftsform, die diejenige abschaffen wollte, die die Misere verursacht hatte.

Der sowjetische Kommunismus, so Ryklin, war in den zwanziger und dreißiger Jahren so attraktiv für westliche Intellektuelle, weil die Oktoberrevolution von ihnen, den bürgerlichen Bürgerlichkeitshassern, als Zerstörung des Bürgerlichen aufgefasst wurde – so wie die Französische Revolution einmal das Feudale überworfen hatte. Aber warum gingen sie: die Intelligenten und Gebildeten, die jeden ideologischen Unsinn des Kapitalismus sofort durchschauten, der Propaganda der Bolschewiki so sehr auf den Leim?
Die Russische Revolution wurde bei ihrer Einreise von den Revolutionstouristen aller Herren Länder meist nicht als eine nationale aufgefasst, sondern als der Beginn der internationalen, ja universellen, die endlich die Herren aller Länder hinwegschwemmen würde.

Ryklin stellt fest, dass diese Russland-Enthusiasmierten augenscheinlich in der Sowjetunion selbst wenig empirische Erkenntnisse gesammelt hatten, begünstigt häufig durch ihre Unkenntnis des Russischen, die den Kontakt zum"‘einfachen Volk" unterband; anders als diejenigen, die sich während und nach ihrem Besuch ernüchtert zwar nicht unbedingt vom Kommunismus, wohl aber von der Sowjetunion abwandten, machten sie nur, wie Ryklin es ausdrückt, „unzureichende sinnliche Erfahrung mit der neuen Staatsmacht“. Denn ihm zufolge, „gab (es) ... nichts, was die Heilung vom kommunistischen Glauben nachhaltiger beförderte, als der harte sowjetische Alltag und die Omnipräsenz der politischen Polizei“.
An manchen Stellen lässt Ryklin zwischen den Zeilen allerdings einen antikommunistischen und nicht nur antibolschewistischen Wind wehen – eine Unterscheidung, die vielleicht im Zuge des "Zerfalls des Kommunismus" verlorengegangen ist; möglicherweise hat man sich in den ehemaligen Ostblock-Staaten mit dem schlechten historischen Resultat des Kommunismus auch des theoretischen Desiderats entledigt und damit an Differenzierungskraft verloren. Es ist durchgängig im ganzen Buch oft nicht klar, ob Ryklin einen Unterschied zwischen Kommunismus und Bolschewismus macht: Zwar betont er den Unterschied zwischen den Idealen des Kommunismus und ihrer schlechten Realisierung im Bolschewismus, unterstellt aber an anderen Stellen dem Kommunismus generell eine totalitäre Tendenz.

Sehnsucht nach der Größe

Möglicherweise hat Ryklin dieses Buch geschrieben, nicht um uns etwas über Russland beizubringen, sondern Russland über sich selbst: um die dort vorhandene Nostalgie, die Sehnsucht nach der ‘Größe’ der alten Sowjetunion und die damit eng verbundene Illusion über deren Wesen zu unterlaufen und zu konterkarieren. Seit einiger Zeit werden von der herrschenden Politik in Russland derartige Phantasmen gehegt und gepflegt, die im Wiederaufleben des unkritischen Kultes um Stalin gipfeln, der unlängst von den russischen Fernsehzuschauern in der Wahl zum ‚wichtigsten Russen’ mit geringem Rückstand auf den dritten Platz gesetzt wurde – auch wenn kritische Intellektuelle gegen diese Verherrlichung Ende 2008 eine internationale Stalinismus-Konferenz organisierten.

Russland hat mit der "Vergangenheitsbewältigung", mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Verbrechen vor allem der Stalinzeit anscheinend in der Öffentlichkeit noch nicht begonnen; stattdessen herrschen bei diesem Thema wie in der deutschen Nachkriegszeit politische Kämpfe, ideologische Auseinandersetzungen und nationalistische Ressentiments vor. Ryklin stellt im abschließenden dritten Kapitel der russischen Gesellschaft von heute ein Armutszeugnis aus: Was die Sowjetunion an ihrem Ende noch zu bieten hatte, fiel unter die Aasgeier, von denen sich jeder aus dem Kadaver sein Stück Besitz oder Macht herausbiss, frei von Moral und Gewissen. Auch Putin ignoriere einfach die Verfassung, die er zwar in Sonntagsreden feiere, im politischen Alltagsgeschäft jedoch umgehe, wenn es ihm notwendig erscheine. Ideologisch davon begeisterte westliche Besucher sind nicht in Sicht.

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