In einem deutschen Großunternehmen wurde neulich eine Untersuchung über Unfallursachen und –folgen durchgeführt. Dabei hat man festgestellt, dass eine überraschend häufige Unfallursache das Stolpern auf der Treppe ist. Ausgerechnet wurde, welche Erhöhung der Ausfallzeiten und des Krankenstandes daraus folgte, die Kosten (nicht nur fürs Unternehmen sondern auch für die Krankenkassen), sind enorm, und auch für den Betroffenen ist ein verstauchter Fuß oder ein gebrochenes Bein natürlich eine unangenehme Sache.
Die Konsequenz dieser Untersuchung ist also nahezu zwangsläufig, denn alle, von der sozialen Gemeinschaft der Versicherten über das Unternehmen bis hin zum einzelnen Treppenbenutzer haben den gleichen Wunsch, solche Unfälle künftig zu vermeiden: Die Benutzung des Handlaufes während des Aufenthalts auf Treppen wurde per Unternehmensanweisung zwingend vorgeschrieben.
Dein Feind, die Treppe
Man muss sich wundern, dass das Betreten der Treppen bei so dramatischen Risiken überhaupt noch gestattet ist. Sollte nicht – wann immer möglich, das Fahrstuhlfahren zur Pflicht gemacht werden? Oder sollte man die Mitarbeiter nicht anweisen, soweit möglich auf Bewegung überhaupt ganz zu verzichten? Die meisten Absprachen können heute per Telefon oder E-Mail bequem vom Arbeitsplatz aus erledigt werden, dazu muss man sich nicht auf den gefahrvollen Weg zum Besprechungsraum oder zum Schreibtisch der Kollegin machen.
Die Wege, die wir beschreiten sollen, werden uns zuvor technisch geebnet, und die Nutzung der technischen Gehhilfen wird zwingend vorgeschrieben. Die künstlichen Bahnen, die uns das technologische Wirken vorgeprägt hat, bringen uns optimal und effektiv an die Orte, an denen wir unsere Arbeit verrichten oder uns ebenso effektiv und unfallfrei erholen sollen – alles läuft reibungslos.
Auf diese Weise verlieren wir jede Fähigkeit, uns überhaupt in einer Wirklichkeit zu bewegen, die nicht zuvor präpariert worden ist. Wer täglich beim Erklimmen genormter Treppenstufen sichernd zum Handlauf greift, ist nicht mehr fähig, die abgewetzten Stufen alter Burgen zu benutzen, geschweige denn, auf einen Berg zu klettern. Und wozu auch: Das Fernsehen und das Internet bringt uns die gleichen Bilder doch hautnah ans sichere Sofa.
Künstliche Welt
Auf diese Weise werden wir eingesperrt in die heile künstliche Welt des technisch Geprägten. Mit jeder Glättung des Alltagsweges, mit jedem genormten Geländer und jeder Unfallvermeidungs-Anweisung werden die Mauern höher, mit denen wir unsere künstliche Wirklichkeit vom Rest der Realität abgrenzen. Diese Mauern bestehen nicht aus Beton, sondern aus unserer eigenen Angst, die aus unserer Unfähigkeit erwächst, auch nur einen Schritt vom gesicherten Weg, den die Normungsbehörden uns vorschreiben, abzuweichen.
So eingeschüchtert und bewegungsunfähig sind wir kontrollierbar. Es ist nur zu unserem Besten, dass wir die Regeln einhalten und die vorgegebenen Wege nicht verlassen. Die Unfallstatistiken beweisen es. Wer will sich schon verletzen, wer will schon Schmerzen haben, wer will schon mit gebrochenem Bein den Verwandten oder gar den Kassen zur Last fallen? Das alles ist vermeidbar, wenn wir die Vorschriften befolgen, die Regeln einhalten und uns nicht mehr als nötig bewegen. Was wir brauchen, wird uns gebracht, was wir sehen wollen, wird uns gezeigt. Schöne neue Welt.
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