Der Richterspruch des Schwarms

Wundersamer Alltag Ein Landgericht fällt ein Urteil, die Lokalzeitungen bringen eine kurze Meldung. Aber die Schwarmintelligenz weiß es besser
Viele Vögelchen machen einen Schwarm, nur wissen viele nicht unbedingt mehr
Viele Vögelchen machen einen Schwarm, nur wissen viele nicht unbedingt mehr

Foto: Kimihiro Hoshino/AFP/Getty Images

Es ist nur eine kleine Meldung in einer Lokalzeitung. Einem heute 31-Jährigen war vorgeworfen worden, vor drei Jahren eine damals 15-Jährige vergewaltigt zu haben. Nach der (nicht öffentlichen) Vernehmung des Opfers war der Prozess jedoch schnell zu Ende: Die Staatsanwältin plädierte auf Freispruch, und so entschied auch die Richterin am Landgericht Essen. Zur Begründung hieß es, das Mädchen hätte zum Beispiel weglaufen oder um Hilfe rufen können, das habe sie jedoch offenbar nicht getan. Sie hatte ausgesagt "alles über sich ergehen lassen zu haben", die Richterin stellte fest: "Wenn man etwas nicht will, muss man das deutlicher machen. Er wusste ja nicht, dass sie das gar nicht wollte."

Soweit die Meldung, die nicht unbedingt etwas mit dem Wundersamen Alltag zu tun haben würde, wenn sie es nicht in meinen Twitter-Stream geschafft hätte. Denn dort schlugen die Wellen der Empörung hoch, und ein paar Klicks genügten, um zu sehen, dass der Twitterer-Schwarm wieder einmal seine Urteilskraft unter Beweis stellen wollte. Auch wenn niemand mehr wusste als das, was eine Hand voll Lokalmedien online in ziemlich gleichen Worten und wenigen Zeilen berichteten, stellte sich schnell heraus, dass die Richterin ein krasses Fehlurteil getroffen hatte. Sozialwissenschaftlerinnen waren sich mit Landtagsabgeordneten und den übrigen Twitterern einig: "Übel!" und "Zum Kotzen!" sei das Urteil, die Richterin gehöre "zwangspensioniert" und natürlich stellte auch jemand die Frage, wo die Richterin denn wohne.

Emotionales Urteil in 140 Zeichen

Eins war für den empörten Schwarm offenbar fraglos klar: Wenn ein Mädchen sagt, sie sei vergewaltigt worden, dann ist das auch so, wenigstens, wenn der Mann ein Trinker ist und als gewalttätig gilt.

Dass Staatsanwältin und Richterin über die Fakten und über die Rechtslage ein wenig besser Bescheid wissen als die Internet-Experten bei Twitter, die sich allein durch eine Zeitungsmeldung informiert hatten, kommt dem selbstbewussten Schwarm nicht in den Sinn. Dass wir alle möglichst zuverlässige juristische Regeln brauchen, um keiner Willkür der Rechtssprechung ausgeliefert zu sein, scheint genauso unwichtig.

Aber das ist noch nicht alles. Als ich die Twittermeldungen las, fragte ich mich, wie ich meinerseits mein Unbehagen über die unisono durch die Timeline laufende Verurteilung der Richterin und der Staatsanwältin äußern könnte. Mir fielen aber keine unmissverständlichen kurzen Sätze ein, mit denen ich das hätte ausdrücken können. Nur das emotionale Urteil lässt sich in 140 Zeichen fassen, für eine sachliche Kritik reicht oft nicht einmal eine Kolumne. So wird das Bild der Übereinstimmung im Schwarm überhaupt erst konstruiert: Diejenigen, die sich einig sind, können das durch kurze Statements signalisieren, aber die die widersprechen wollen, lassen die Finger von der Tastatur. Mein verzweifeltes Kopfschütteln vor dem Bildschirm hat keiner bemerkt.

Jörg Friedrich geht immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nach. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Veränderung mit einem Wundern. Vergangene Woche fragte er nach den Ureinwohnern und den Siedlern in der digitalen Welt.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

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