Die risikolose Gesellschaft

Bevormundungsstaat Hüten Sie sich vor allem, was es gibt? Unser Autor sieht am Horizont die Fahrradhelm- und Warnwestenpflicht heranziehen und argumentiert schon mal vorbeugend dagegen

Wer heute Mitte 40 ist, der kann sich noch erinnern, dass in seiner Kindheit Motorradfahrer ohne Schutzhelm unterwegs waren, und vermutlich wird er noch erleben, dass jeder Fahrradfahrer einen Helm tragen muss, ja es könnte sogar sein, dass er an seinem Lebensabend noch die ersten Diskussionen um die Einführung einer Helmpflicht für jeden Verkehrsteilnehmer erlebt. Das wäre nur die konsequente Fortsetzung einer Entwicklung, die wir seit Jahrzehnten beobachten können: Absicherung gegen jegliche Gefahr für Gesundheit und Leben wird nicht nur möglich, sie wird gleichzeitig zur Pflicht.

Schaut man sich Filme aus den 1960ern an, traut man seinen Augen kaum: In Autos schnallte man sich nicht an, Fahrräder hatten vielleicht vorn eine Funzel und hinten ein Katzenauge, aber von Reflektoren an Speichen und echtem Rücklicht war nichts zu sehen. All das ist heute zwingend vorgeschrieben.

Auf anderen Gebieten zwingt uns der sorgende Staat zur Gesundheit, indem er uns schlicht keine Möglichkeit mehr bietet, uns selbst zu schaden. Das Betreten einer Kneipe, in der geraucht wird, ist fast genauso unmöglich wie das Balancieren auf einem Brückengeländer: Gesetze und Vorschriften sorgen dafür, dass wir keine Chance bekommen, uns in Gefahr zu begeben. Als Student konnte ich noch aus der S-Bahn abspringen, bevor sie ganz zum Halten gekommen war, heute können die Türen erst geöffnet werden, wenn der Zug ganz zum Stehen gekommen ist.

Das Halteriemengefühl

Begründet wird das durch die Minimierung der Unfallzahlen im Promillebereich, gemessen an der Gesamtzahl der Verkehrsteilnehmer. So wird mein Leben immer sicherer, aber weniger durch die Möglichkeiten der Technik, die ich gerne nutze, sondern durch staatliche Verordnungen, die mich dazu zwingen, Gefahren zu vermeiden – so gering sie in Wirklichkeit auch sein mögen und so sehr ihre vorgeschriebene Vermeidung meine Entscheidungsfreiheit und Lebensqualität auch einschränkt.

Ich will mir beim Fahrradfahren keinen Helm aufsetzen, ich liebe den kühlen Wind am Kopf und hasse das schwitzige Gefühl der Halteriemen. Und ich weiß, dass der nächste Schritt die orangefarbene Warnweste mit Reflexionsstreifen sein wird, die ich mir irgendwann überziehen muss, bevor ich aufs Rad steige, aber ich finde die hässlich und die dunkle Jacke schön und gemütlich.

Jede einzelne neue Vorschrift scheint hochgradig vernünftig zu sein, sie wird mit wissenschaftlichen Studien und mit Zahlen und Fakten belegt. Und selbst die Gegner argumentieren mit wissenschaftlichen Argumenten. Aber das ist eigentlich alles egal, weil die Zahlen und Wahrscheinlichkeiten ohnehin niemand wirklich bewerten kann und schon gar nicht können sie gegen die Einschränkungen der Freiheit und des Wohlbefindens aufgerechnet werden: Wer will entscheiden ob ein kühler Wind mehr wert ist als die Verringerung des Risikos eines Schädelbruchs um soundsoviel Prozent?

Ausnahme Airbag

Es ist schon erstaunlich, dass überhaupt fast jede neue Methode der Unfallvermeidung mit Gesetzen, Überwachung und Strafen durchgesetzt werden muss. Warum? Weil jede Methode eine Einschränkung ist. Es gibt nur eine Ausnahme: den Airbag. Der Grund ist, dass niemanden die Existenz dieses Ballons irgendwo im Lenkrad oder unter der Innenraumverkleidung des Autos stört. Aber alle Sicherheitssysteme, die irgendwie stören, werden von den Menschen abgelehnt, egal, ob es der Sicherheitsgurt oder der Schutzhelm ist. Offenbar schätzen die meisten ihre Freiheit höher als den Zugewinn von ein bisschen Sicherheit.

Was ist das überhaupt für eine Gesellschaft, in der die Menschen zur Vorsicht gezwungen werden? Und welchen Sinn hat das Ganze? Warum sollte nicht jeder selbst entscheiden können, ob er das Risiko eingeht, keinen Helm zu tragen, egal, ob als Fußgänger, als Fahrradfahrer oder als Motorradfahrer, oder sich nicht anzuschnallen, egal, ob im Auto oder im Bus?

Wozu ist diese Vorsicht, diese Vermeidung jedes Risikos gut? Versuchsweise könnte man ganz ökonomisch argumentieren: Die Schutzmechanismen helfen vielleicht, Genesungskosten von Unfallopfern zu reduzieren. Belastbare Zahlen dürfte es dazu aber kaum geben, und zudem ist unwahrscheinlich, dass diese Rechnung aufginge: Ein Motorradfahrer, der einen Helm trägt, oder ein Autofahrer, der angeschnallt ist, hat zwar eine größere Überlebenschance, aber die Kosten seiner Behandlung dürften nicht merklich sinken. Makaber formuliert: Einen Unfalltoten zu beerdigen ist sicher billiger als einen Schwerverletzten zu versorgen und wieder gesund zu bekommen.

Zwingt uns der Staat vielleicht dazu, unser bisschen Leben so gut wie möglich zu schützen, damit wir unserer Funktion nachkommen, diese Gesellschaft ganz physisch zu erhalten? Das wäre allerdings paradox, denn es ist schon auffällig, dass Gesellschaften, die um die Sicherheit ihrer Bürger am meisten besorgt sind, nicht etwa wachsen, sondern schrumpfen und allenfalls altern. Wo jedes Risiko vermieden wird, da liegt es auch nahe, die Risiken einer Schwangerschaft und des Eltern-Seins zu meiden. Statt Kinder in die Welt zu setzen, passen wir sorgsam auf unser bisschen Leben auf und setzen es möglichst keiner Gefahr aus: nicht der verrauchten Kneipe, nicht der Kopfverletzung beim Sturz vom Fahrrad und nicht der Geburt und Erziehung von Kindern.

Die Herrschaft des bürokratischen Apparats

Bleibt eigentlich nur eine Erklärung: Die staatliche Bürokratie neigt dazu, alles zu regeln und die Bürger zu bevormunden. Ihrem geregelten Verfahren ist jede emotional begründete Entscheidung zur Freiheit zuwider. Was wir als angenehm, schön, verlockend empfinden, das ist dem Apparat schlicht irrationales Zeugnis unserer Unmündigkeit, unserer Unfähigkeit, selbst zu entscheiden, was gut für uns ist.

Man kann hier wohl nicht einmal Politikern die Schuld geben, denn mit Rufen nach Helm- und Anschnallpflicht konnte man noch nie Wahlen gewinnen. Vielmehr scheint dieser Automatismus, der zu immer mehr Sicherheit führen soll und für den Einzelnen eigentlich immer nur mehr Einschränkung und Bevormundung bedeutet, ein Zeichen für die heimliche Herrschaft des Apparates der politischen Bürokratie zu sein, deren Erstarken schon Karl Marx im „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ beklagte: „Jedes gemeinsame Interesse wurde sofort von der Gesellschaft losgelöst, als höheres, allgemeines Interesse ihr gegenübergestellt, der Selbsttätigkeit der Gesellschaftsglieder entrissen und zum Gegenstand der Regierungstätigkeit gemacht, von der Brücke, dem Schulhaus und dem Kommunalvermögen einer Dorfgemeinde bis zu den Eisenbahnen, dem Nationalvermögen und der Landesuniversität ... Alle Umwälzungen vervollkommneten die Maschine statt sie zu brechen.“

So zeigt im Bevormundungsstaat der bürokratische Apparat ganz unmittelbar seine alles regelnde Macht. Gestützt auf wissenschaftliche Expertise und statistische Belege zwingt sie uns, unsere Freiheit und unsere Bedürfnisse einer risikoscheuen Vollschutz-Absicherung zu opfern. Und dieser risikoscheue Bürger, der Angst vor jedem Kratzer und jeder Verletzung hat, ist dem Apparat ganz recht, denn er gibt nicht nur seine Selbst-Verantwortung fürs Fahrradfahren ab, er überlässt alles Unsichere gern der Regelungswut der Bürokratie. Und Regeln und Verfahren, das sind wiederum die Säfte, die den Apparat am Leben halten.

Was kann man da machen? Wer nicht eines Tages mit leuchtender Warnweste und Helm auf dem Kopf durch die Stadt spazieren will, dem bleibt im Moment nur, Sand ins Getriebe zu streuen. Keiner automatischen Verpflichtung, auch wenn man sie selbst für sich als angenehm empfindet, zuzustimmen. Niemand muss mir vorschreiben, etwas zu tun oder zu lassen, dessen Risiko nur mich selbst betrifft.

Vielleicht lässt sich auf diese Weise ein Umdenken auf den Weg bringen. Wer erst einmal verstanden hat, wie sehr er sich bevormunden lässt, der wird zum Rebell. Wir müssen uns die Frage stellen, wie viel Sicherheit wir uns eigentlich bieten lassen wollen.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

Jörg Friedrich

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