Keine Experimente

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Kann die Politik etwas von der Wissenschaft lernen, können die Politiker bessere Entscheidungen treffen, wenn sie sich bei Naturwissenschaftlern Methoden abschauen? Freitag.de veröffentlichte am 28.05.2012 einen Artikel von Marc Henderson, in dem die These entwickelt wird, Politik könnte erfolgreicher sein, wenn sie die experimentelle Methodik der Naturwissenschaften übernähme.

Ein Idealbild der Wissenschaften

Zunächst zeichnet Henderson ein Idealbild von Wissenschaft, das zwar weit verbreitet ist und von denen, die gern die naturwissenschaftliche Methode als Vorbild für das Problemlösen in allen Lebenslagen propagieren, immer wieder verbreitet wird, das aber wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat. Er schreibt u.a.: "Selbst die anmutigste These wird verworfen, wenn sie der Konfrontation mit der Realität nicht standhält." Das wird immer wieder gern behauptet obwohl es nun bereits eine Unmenge von Studien und Fallanalysen gibt, die das Gegenteil beweisen. Ludwik Fleck hat in "Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache" schon 1935 gezeigt, wie sehr Wissenschaftler an ihren Theorien hängen und wie sie sie gegen die Realität "immun" machen. Das jüngste Beispiel aus dem Bereich der Königsdisziplin unter den Naturwissenschaften, der Physik, ist wohl die Stringtheorie, eine sehr wohl "anmutige These" die nur deshalb die Konfrontation mit der Realität nicht scheuen muss, weil niemand auch nur den Schimmer einer Idee hat, wie man sie in nächster Zeit experimentell überhaupt prüfen kann.

Experimente: Voraussetzungen und Interpretationen

Aber nehmen wir einen Moment lang an, die Wissenschaft wäre tatsächlich so, wie Henderson sie beschreibt. Was er dann völlig außen vor lässt ist, welchen Einrichtungsaufwand die moderne Naturwissenschaft betreiben muss um einigermaßen eindeutige, reproduzierbare und klare Ergebnisse zu erhalten. Dazu müssen in den allermeisten Fällen absolut künstliche, gegenüber der sonstigen Realität radikal vereinfachte Laborbedingungen geschaffen werden. Mit großem Aufwand werden im Labor Situationen erzeugt, die in der Realität so quasi nie anzutreffen sind.

Selbst unter solchen Idealbedingungen sind experimentelle Ergebnisse oft nicht eindeutig. Fehlerdiskussionen müssen durchgeführt werden, das weiß schon jeder, der in der Schule oder im Studium einmal ein Praktikums-Experiment ausführen musste. Dabei wird das Messergebnis auf die bereits bekannte Theorie angepasst. Es wird sozusagen gezeigt, dass das Ergebnis unter den anzunehmenden Störungen irgendwie mit der Theorie vereinbar ist. Das Ergebnis eines Experimentes muss immer interpretiert werden, es ist nie eindeutig.

In gesellschaftlichen Situationen ist es aber nie möglich, solche idealen Experimentiersituationen herzustellen. Die Einflüsse auf die handelnden Menschen sind immer vielfältig und reichen weit vor Beginn des Experimentes zurück. Elementarteilchen und Chemikalien haben keinen Lebenslauf, keine bisherigen Erfahrungen wie Menschen sie haben.

Dazu kommt, dass man aus Experimenten unter Idealbedingungen eben kaum etwas über die Praxis sagen kann, die man erfährt, wenn man das Labor verlässt. Das ist ja der Grund, warum wir uns unsere Welt so schön technisch einrichten: Ein Auto auf glatter Straße rollt eben nahezu so wie im Labor, Das Wasser in der Rohrleitung strömt ebenso wie die Flüssigkeit im Laborversuch und nicht so wie das Wasser im wilden Fluss. Gesellschaftliche Systeme lassen sich aber, zum Glück, nicht so schnell technisch glätten und vereinfachen, und Menschen schon gar nicht.

Auf dem Weg in die Technokratie?

Experimente mit Menschen verbieten sich aus moralischen Gründen. Man kann mit Menschen nicht umspringen wie mit Elementarteilchen im Beschleuniger oder Laborratten. Wer möchte, dass die Politik die experimentelle Methode von der Naturwissenschaft übernimmt, der strebt letztlich eine Technokratie an, in der die gesellschaftlichen Beziehungen auf das technologisch Beherrschbare reduziert wird und eine Bedienungsanleitung jedem sagt, was er tun darf und was zu unterlassen ist.

Politik muss, wenn sie demokratisch sein soll, vor allem darauf Rücksicht nehmen, was für die Betroffenen akzeptabel ist. Der Chemiker fragt seine Substanzen nicht ob es ihnen recht ist, wenn er sie jetzt zusammenschüttet – das muss Politik aber tun. Ob die Experimentalanordnung einem höheren Zweck dient, ob das Gemeinwohl vom Experiment abhängt oder ob es – nach Meinung von Experten – sogar zum Guten für den Betroffenen ist, ist völlig unerheblich, der Mensch, mit dem ein Experiment gemacht werden soll, muss sich aus freien Stücken auf den Versuch einlassen können, und er muss ihn ohne Angabe von Gründen auch verweigern können. Solche Erwägungen sind Naturwissenschaftlern hinsichtlich ihrer Versuchsobjekte bekanntlich fremd.

In einer demokratischen Gesellschaft ist die Probe auf den Erfolg politischer Experimente die Wahl, die regelmäßig ansteht – und das reicht auch völlig aus. Die Wahlen zeigen, ob die Experimente der Politiker akzeptabel waren. Eine solche Überprüfung steht für die Naturwissenschaften nicht zur Verfügung, ein Wissenschaftler kann nicht demokratisch abgewählt werden. Vielleicht kann da die Wissenschaft noch von der Politik lernen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

Jörg Friedrich

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