Solotänzer

Wundersamer Alltag Disco im Freien? Da muss man sich nicht mehr näher kommen. Mit Kopfhörern fährt jeder seinen Musik-Trip und stört niemanden: Ist das wahre Autonomie?, fragt unser Autor
Silent Disco in Edinburgh - jeder tanzt für sich und zu eigener Musik
Silent Disco in Edinburgh - jeder tanzt für sich und zu eigener Musik

Foto: Underbelly Limited

Die Geschichte der Mobilität des Musikgenusses ist ein schönes Beispiel dafür, dass nichts von dem, was wir heute beobachten, wirklich neu ist - aber dass sich das Bekannte nach und nach verschiebt, bis etwas entstanden ist, was sich doch ganz wesentlich vom Ausgang unterscheidet.

Man könnte bei dem wandernden Müller anfangen, der immer ein Lied auf den Lippen hatte, oder beim Kofferradio, das dem Müller (und seiner Umgebung) das Selbstsingen ersparte, oder beim Kassettenrecorder, durch den man sich die Musik, die man hören wollte, wieder selbst aussuchen konnte, oder beim Walkman, der die Umwelt nicht nur vor unerwünschtem Gesang des Müllers sondern vor jeglichem störenden Geräusch bewahrte.

Liebe oder Hölle

All diese kleinen Verschiebungen könnte man auch als entscheidende Einschnitte auffassen, die irgendetwas im alltäglichen Zusammenleben verändert haben. Der Kopfhörer ist das Sinnbild für den autonomen Menschen, der frei entscheiden kann, welchen Song er hört, und wie laut. Die Technik wird immer besser und die Belästigung durch Restgeräusche der Mitmenschen aus den Minilautsprechern wird immer geringer.

Die neueste Erfindung auf diesem Gebiet sind nun so genannte Leise-Discos. Die haben nicht nur den Vorteil, dass die Nachbarschaft bei Freiluftveranstaltungen nicht gestört wird, sondern dass jeder Party-Besucher selbst entscheidet, nach welcher Musik er tanzen möchte. Zwar ist die Auswahl im Moment noch gering, der DJ legt nur ein paar wenige unterschiedliche Musik-Streams gleichzeitig auf, aber wer sich im Takt eines Lovesongs wiegt, kann nicht mehr sicher sein, ob die Nachbarin nicht vielleicht gerade auf dem Highway to Hell ist.

Man muss auf solchen Partys auch keine Angst mehr davor haben, angebaggert zu werden. Die Lautstärke der Musik in einer herkömmlichen Diskothek macht es notwendig, dass man sich sehr nahe kommt, wenn man sich unterhalten will. Hier nimmt man einfach den Kopfhörer ab, mit der Musik verschwindet auch die emotionale Entrückung, man ist auf einen Schlag in der nüchternen Welt zurück und kann sich, unter Respektierung des Intimbereichs des Gesprächspartners, anständig unterhalten.

Man lässt sich in Ruhe

So ist diese moderne Form des Zeitvertreibes ein Sinnbild für unser gegenwärtiges Freiheits- und Autonomieverständnis: Jeder entscheidet frei für sich, man stört keinen und wird nicht gestört, man lässt einander in Ruhe. Freiheit heißt nicht mehr, sich frei entscheiden zu können, zu welcher Gemeinschaft man gehören will. Man genießt die Freiheit, allein zu bleiben.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

Jörg Friedrich

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