Nicht mehr per Anhalter

Wundersamer Alltag Die Tramper sind verschwunden, aber warum? Jeder weiß es, aber jeder weiß etwas anderes
Die Jungen kommen nicht mehr auf die Idee zu trampen, weil sie dazu ältere kennen müssten, die es ihnen vormachen
Die Jungen kommen nicht mehr auf die Idee zu trampen, weil sie dazu ältere kennen müssten, die es ihnen vormachen

Foto: zenit.fanatic

Es gibt keine Tramper mehr. Vor 30 Jahren standen sie noch an den Autobahnauffahrten und in der Nähe der Ortsausgänge an den Landstraßen. Das weiß ich, denn da war ich oft einer von ihnen. Auch vor 15 Jahren gab es sie noch, denn da habe ich selbst immer mal wieder einen von ihnen mitgenommen. Aber jetzt fährt offenbar niemand mehr „per Anhalter“. Es ist fraglich, ob es überhaupt noch möglich wäre, ob diese Kulturtechnik nicht schon ausgestorben ist. Damit das Trampen funktioniert, muss der Autofahrer innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde das Signal verstehen, das der Anhalter ihm sendet. Als Fahrer muss man darauf eingestellt sein, dass da jemand stehen könnte, und das geht nur, wenn man es gewohnt ist, Leute, die den Daumen hochhalten oder dem fließenden Verkehr Pappschilder mit Städtenamen entgegenhalten, zu sehen, wenn man es gewohnt ist, darauf zu achten. Da es diese Gewohnheit schon nicht mehr gibt, würde wahrscheinlich schon deshalb heute kaum noch ein Autofahrer anhalten, weil er zu spät reagieren würde.

Warum versucht niemand mehr, fremde Autofahrer durch eine einfache Geste dazu zu bewegen, anzuhalten, damit man ein Stück in die Ferne mitgenommen wird? Ich habe verschiedene Bekannte gefragt und bekam ganz unterschiedliche Antworten. Einer meinte, es sei heute viel zu gefährlich, sich zu fremden Leuten ist Auto zu setzen, und es sei auch zu gefährlich geworden, jemanden mitzunehmen. Da friedliche junge Leute aus Angst nicht mehr trampen, stehen ohnehin nur noch Leute an den Straßen, denen man nicht trauen könnte – und deshalb sei es umso ratsamer, nicht anzuhalten. Der Nächste erklärte, dass die jungen Menschen alle selbst Autos hätten, die hätten es gar nicht mehr nötig, per Anhalter zu fahren. Ein dritter erläuterte mir, dass überall da, wo früher Tramper stehen konnten, heute striktes Halteverbot sei, es gäbe schlicht keine vernüftige Stelle mehr, an der man Tramper ins Auto lassen könnte.

Perpetuum mobile des Weltverstehens

Das Wundersame an der Sache: Alle drei waren von ihrer Erklärung völlig überzeugt, für sie war jeweils die Sache völlig klar, jeder von ihnen staunte eigentlich vor allem über meine Einfalt, dass ich nicht selbst auf die einzig plausible Erklärung gekommen war.

Es erübrigt sich wohl, zu erwähnen, dass keiner von den dreien irgendwelche Studien, Befragungen oder wissenschaftlichen Untersuchungen zur Untermauerung seiner Überzeugung vorgebracht hat. Für jeden von ihnen erklärte sich das Verschwinden der Tramper ganz selbstverständlich aus seinen Vorstellungen von der Gesellschaft: Der erste sah überall die zunehmende Kriminalität, der zweite die verwöhnte, materiell zu gut ausgestattete Jugend, der dritte die wuchernde staatliche Bevormundung, die überall Verbote aufstellt und damit Spontanität verhindert. Und der Clou: jeder von ihnen konnte nicht nur das Verschwinden der Tramper aus seinem Weltbild erklären, sondern auch umgekehrt, die verschwundenen Tramper waren für jeden von ihnen nun auch ein Beleg dafür, dass ihr Weltbild stimmt. Ein perpetuum mobile des Weltverstehens.

Warum tatsächlich keine jungen Menschen mehr von fremden Autofahrern mitgenommen werden wollen, kann man vielleicht überhaupt nicht herausfinden. Die, die früher getrampt sind, tun es schon deshalb nicht mehr, weil sie älter geworden sind. Und die Jungen, können wir vermuten, kommen nicht auf die Idee, weil sie dazu ältere kennen müssten, die es ihnen vormachen. Die Kette ist schlicht abgerissen, genauer gesagt, sie ist, aus welchen Gründen auch immer, über die Jahre dünner geworden und am Schluss hat sie sich aufgelöst.

Vielleicht ist es auch viel einfacher: vielleicht gibt es die Tramper immer noch, man sieht sie nur nicht mehr. Sie stehen an den virtuellen Straßen der Mitfahrzentralen, sie halten den virtuellen Daumen im Twitter-Stream hoch.

Aber das ist auch nur eine Wahrheit, die vierte. Warum es wirklich keine Tramper mehr gibt, lässt sich nicht ermitteln.

Jörg Friedrich geht immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nach. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Veränderung mit einem Wundern.

Vergangene Woche wunderte er sich über die Urteilskraft des Schwarms.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

Jörg Friedrich

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