Nur eine Behauptung

Wundersamer Alltag Wird Deutschland Europameister? Kann doch niemand wissen - für unseren Autor ist, was er irgendwo geschrieben findet, nah an der Wahrheit. Fahrplänen aber traut er nicht
Otter Ferret wusste, das Deutschland gegen die Niederlande gewinnen wird - oder oraklete er nur?
Otter Ferret wusste, das Deutschland gegen die Niederlande gewinnen wird - oder oraklete er nur?

Foto: Hendrik Schmidt/ AFP

Viele wünschen es sich, manchen ist es egal, aber niemand weiß es: „Deutschland wird Europameister“ ist heute eine Behauptung, von der niemand sagen kann, dass er sich ihrer Wahrheit sicher ist. Selbst wenn unsere Mannschaft ins Finale kommt, wird jeder, der behauptet, er wüsste, dass die Mannschaft siegreich sein wird, nur mitleidiges Lächeln empfangen – und am schlimmsten wird es, wenn am Tag nach dem Sieg der gleiche Mensch dann behauptet, er habe es doch gewusst, aber niemand habe ihm geglaubt. Aber ist das nicht merkwürdig? Warum wird nicht akzeptiert, wenn man behauptet, den Ausgang eines Fußballturniers sicher vorhersagen zu können?

Kann man über die Zukunft überhaupt etwas wissen? Dass am 1. Juli 2012 um 20 Uhr 45 in Kiew das Finalspiel der Europameisterschaft stattfindet, wäre eine Aussage, die ich als Wissen akzeptieren würde. Ich habe eben eine Internet-Suchmaschine befragt und diese Information auf verschiedenen Webseiten gefunden, u.a. in einer bekannten und oft benutzten Online-Enzyklopädie. Das macht mich sicher. Natürlich könnte irgendetwas dazwischen kommen, was die Planungen über den Haufen wirft, ein Erdbeben, ein Anschlag oder ähnliches. Man würde von solchen Ereignissen sagen, dass man das nicht wissen konnte. Es gibt also Ereignisse in der Zukunft, die kann man wissen, und andere, die kann man nicht wissen – jedenfalls sagen wir das im Alltag so. Was unterscheidet diese Fälle voneinander?

Wer kennt das Wetter von morgen

Zum einen bezeichne ich vieles als Wissen, wenn ich es überall nachlesen kann. Das betrifft Ereignisse in der Vergangenheit ebenso wie in der Zukunft. Das Geburtsdatum von Karl Marx ist nur ein paar Klicks vom Datum des EM-Finales entfernt, und was ich durch Nachschlagen oder Internet-Recherche ermittelt habe, davon sage ich, dass ich es weiß. Ich kann aber auch das Wetter von übermorgen auf diese Weise ermitteln, und möglicherweise finde ich dabei auch überall die gleiche Angabe. Trotzdem würde ich kaum sagen, dass ich weiß, wie das Wetter am Wochenende wird.

Zum anderen spielt die Regelanwendung und Planung eine große Rolle, wenn ich sage, dass ich weiß, was in Zukunft passieren wird. Termine und Orte der Fußballspiele wurden geplant, sie wurden nach bestimmten Regeln festgelegt und sind nicht der Willkür oder dem Belieben Einzelner geschuldet. Es gibt Techniken der Turnierplanung, wahrscheinlich wird sogar eine Software eingesetzt, die die einzelnen Zeiten festlegt.

Solchen Regeln und Techniken trauen wir jeden Tag, wir verlassen uns auf sie, egal ob wir zum Bahnhof gehen um mit einem Zug zu fahren, oder ob wir uns mit Freunden verabreden. Was regelgemäß vorbereitet ist, davon sagen wir, dass wir wissen, dass es passieren wird.

Kreativer als Technik

Das ist allerdings auch wieder verwunderlich, denn wie oft passiert es, dass Planungen nicht eingehalten werden, egal, ob ein Freund uns versetzt, der Zug verspätet ist oder ein Großflughafen nicht eröffnet wird. Manchmal meint man, dass Planungen umso sicherer werden, desto weniger Menschen eine Rolle spielen – weshalb ja auch niemand wirklich zu wissen vorgibt, welche Mannschaft nun Europameister wird. Wir vertrauen eben auf die Technik und die Anwendung klarer Regeln, die in der Technik so vorzüglich umgesetzt wird. Aber gerade die Technik lässt uns oft im Stich, und dass Planungen dann trotzdem eingehalten werden, liegt oft an kreativen Menschen, die der unzuverlässigen Technik zum Trotz dafür sorgen.

Man sieht: Was als Wahrheit und als Wissen über die Zukunft akzeptiert wird, ist letztlich nur Verabredung der Menschen. Vielleicht kann man sagen, dass ich behaupten kann, etwas über die Zukunft zu wissen, wenn die Regeln klar und die Techniken bekannt sind, die notwendig zu einem Ergebnis führen – und wenn ich nicht Schuld bin, wenn es daneben geht, wenn ich sagen kann: „Das konnte ich nicht wissen!“

Vielleicht ist es besser, gar nicht vom Wissen zu reden, wenn es um die Zukunft geht, sondern von Glauben. Einer glaubt an die Technik und an die Regelwerke, ein anderer an die Menschen. Und deshalb kann ich sagen: Ich glaube ganz sicher, dass Deutschland Europameister wird. Und am 1. Juli werden alle Leser dieses Artikels sagen: Er hat es gewusst.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

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