Nur wechselnde Kulisse

Wundersamer Alltag Wir leben in einer Zeit rasanten Wandels. Denken wir. Aber das dachten Menschen vor 100 Jahren auch. Unser Kolumnist fragt sich, ob wirklich alles immer schneller wird

Seit wenigstens 200 Jahren glauben die Menschen, gerade jetzt Zeugen von dramatischen Veränderungen zu sein, halten sie ihre Gegenwart – im Gegensatz zu allen vorherigen – für eine Zeit der rasanten Umstürze und der gewaltigen Fortschritte. Wir Heutigen lächeln nachsichtig über unsere Großeltern und Vorfahren: Ja, auch ihr glaubtet schon, in Zeiten des rasenden Wandels zu leben, aber ihr habt euch geirrt, eure Zeiten waren noch sehr ruhig, gemessen an den unseren, die nun wirklich an Tempo und Dynamik nicht mehr zu überbieten sind.

Alles verändert sich so schnell und nichts ist mehr sicher – das ist nun wirklich eine alltägliche Aussage. Aber stimmt sie überhaupt? Politisch leben wir in Europa seit Jahrzehnten in ruhigen Zeiten, unsere Gesellschaftsform schläft den Dornröschenschlaf und nichts scheint, sie wecken zu können. Vor 250 oder auch noch vor 150 Jahren vergingen von einer Revolution zur nächsten vielleicht mal 20 oder 30 Jahre, heute sind wir schon erschüttert, wenn ein Bundespräsident mal unverhofft zurücktritt.

Und was ist mit dem technischen Fortschritt? Ist das, was wir mit der mobilen Kommunikation und der Online-Information gerade erleben, wirklich dramatischer als die früheren technischen Revolutionen? Und ging damals wirklich alles viel langsamer vonstatten?

Dramatische technische Entwicklung

Vor rund 100 Jahren hatte die technische Entwicklung eine Dramatik, die wir uns heute kaum noch vorstellen können: 1888 baute Hertz seinen ersten Oszillator zum Nachweis elektromagnetischer Wellen, woraus sich rasant die Funktechnik entwickelte. Schon 1895 führte Marconi die erste Drahtlosübertragung von Funksignalen durch. Ebenfalls 1895 entdeckte Röntgen die später nach ihm benannten Strahlen. 1903 führten die Brüder Wright den ersten Motorflug durch, erste Autofabriken entstanden, das erste Massenauto (Modell T) wurde 1909 gebaut. Von den revolutionären wissenschaftlichen Entwicklungen der Zeit um 1900 können wir heute wahrlich nur träumen.

Vor rund 200 Jahren sah das nicht wesentlich anders aus: Die erste Hochdruck-Dampfmaschine wurde 1798 gebaut, ihr folgte der erste Dampfwagen 1801 und die erste Dampflok auf der Schiene 1804 – eine Revolution, die zum Aufblühen von Industrie und Bergbau führte. All diese technischen Entwicklungen haben für die Gesellschaft dramatische Veränderungen mit sich gebracht. Und die Veränderungen, die die Einführung der Kartoffel aus Amerika für Europa bedeutete, dürfte nicht weniger dramatisch gewesen sein. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen: Buchdruck, Großsegel, Pferdekutsche und so weiter ...

Wenigstens in den letzten paar hundert Jahren hat der Siegeszug einer alles verändernden Technologie auch nicht länger gedauert als die Verbreitung des Internet oder des Handy. Und genau genommen geht der Wandel heute gar nicht so schnell, wie wir uns manchmal einreden. Die Software, mit der ich diesen Text hier schreibe, ist nun schon fast zehn Jahre alt, mein erstes Mobiltelefon hatte ich vor knapp 20 Jahren. Schon meine Diplomarbeit habe ich Ende der 1980er auf einem Gerät geschrieben, was sich für einen, der von Ferne draufschaut, nicht wesentlich von dem Ding unterscheidet, vor dem ich hier im Moment gerade sitze.

Nichts Wichtiges hat sich verändert

Man könnte einen ganzen Roman schreiben mit einer spannenden Alltagsgeschichte, der Formulierungen enthielte wie "er erhielt eine kurze Nachricht von ihr" oder "sie fuhr so schnell sie konnte zu ihm" oder "er las in den aktuellen Mitteilungen der Firma" von denen niemand wüsste, ob sie vor 200 Jahren oder heute angesiedelt ist. Nichts Wichtiges hat sich seitdem verändert. Die Menschen arbeiten, sie verdienen ihren Lebensunterhalt oder leiden Not, sie treiben Kultur, Politik und Kunst, sie führen Kriege und planen Revolutionen. Der Rest ist nur wechselnde Kulisse.

Jörg Friedrich geht immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nach. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Weltveränderung mit einem Wundern. Vergangene Woche wunderte sich Friedrich über unterschiedliches Verhalten an der roten Ampel.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

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