Schweben ist relativ

Wundersamer Alltag Ruckelten die Schnellzüge der 1950er Jahre weniger als der moderne ICE? Unser Autor trifft eine alte Dame, die das behauptet. Aber damals gab es auch noch Pferdekutschen

Es ist sieben Uhr morgens in einem ICE der dritten Generation, 1. Klasse. Ledersitze, Beinfreiheit, der Zugbegleiter verteilt kostenlose Zeitungen und fragt nach Wünschen aus dem Bordbistro. Die meisten Fahrgäste haben ihre Notebooks aufgeklappt, tippen Zahlen in Excel-Sheets, formatieren Präsentationen oder schreiben Kolumnentexte für Online-Medien. Nur wenige Passagiere scheinen auf einem anderen Weg zu sein als unterwegs zu einem wichtigen Geschäftstermin. Der Zugbegleiter fragt eine ältere Dame, die zwischen 70 und 80 Jahre alt sein mag, ob sie lieber die Süddeutsche oder die Bild-Zeitung lesen möchte. Sie entscheidet sich, etwas überrascht, für beide – es wäre eine andere Alltagskolumne wert darüber zu sinnieren, dass erstaunlich viele der Geschäftsreisenden hier die selbe Entscheidung wie die alte Dame treffen. Aber an diesem Tag wundert man sich über etwas anderes.

Die Dame hindert den Zugbegleiter mit einer Frage am Weitergehen: "Sagen Sie, junger Mann, muss das eigentlich sein, dass der Zug so ruckelt und wackelt?" Ich weiß nicht, ob das Personal von ICE-Zügen auf solche Fragen in Schulungen vorbereitet wird. Ich selbst wäre mit einer sachlichen Antwort, die über ein „Offensichtlich ja“ hinausgeht, wohl überfordert. Aber die Antwort des freundlichen Mitarbeiters können wir auch im Fahrgeräusch des inzwischen bei rund 200 km/h angekommenen Zuges untergehen lassen, denn viel spannender ist, was die Frau, die sicherlich schon manche Zuggeneration kommen und gehen gesehen hat, sonst noch zu sagen hat: „Wissen Sie, dieses Geruckel und Geholper ist ja fast unerträglich. Als ich ein junges Mädchen war, da war es ein Gleiten und Schweben, wenn ich mit dem Schnellzug fuhr.“ Dabei macht sie eine grazile Handbewegung durch die Luft, sodass selbst der entfernt sitzende Philosoph sich vorstellen kann, wie der Schnellzug in den 1950er Jahren auf glatten Schienen dahin schwebte.

Sessel statt Kopfsteinpflaster

Man könnte die kleine Szene als ein Beispiel des gewöhnlichen und alltäglichen Schimpfens über die Bahn ansehen. Aber nehmen wir die Lebensweisheit der vielgereisten Frau einmal beim Wort: Ist es wirklich wahr, dass die Schnellzüge der 1950er Jahre weniger ruckelten als der moderne ICE? Es wird darüber vermutlich keine belastbaren Daten geben, weder alte noch aktuelle Zugruckel-Messungen stehen zur Verfügung, und Experimente mit alten Zügen auf alten Gleisen können keinen Aufschluss darüber geben, wir es früher wirklich war. Wir sind in solchen Dingen ganz auf die Erinnerung von Menschen angewiesen, die dabei waren – und es scheint nicht ganz abwegig zu vermuten, dass eine Befragung alter Menschen in neuen Zügen eine Bestätigung der schwärmerischen Erinnerung unserer Mitfahrerin erbringen würde. Trotzdem bleiben Zweifel.

Das Gefühl des Schwebens ist ja sicherlich eine sehr subjektive Erfahrung, die sich an den sonstigen Alltagserfahrungen orientiert. Ein junges Mädchen wird in den 1950ern im mäßig gefederten Automobil oder auf dem von zwei Pferden gezogenen Fuhrwerk über Kopfsteinpflaster zum Bahnhof gefahren worden sein – dass dagegen das Reisen im Zug auf weichen plüschigen Sesseln (wir vermuten, das junge Mädchen durfte schon zu jener Zeit die erste Klasse nutzen) ein Gleiten und Schweben war, klingt glaubwürdig. Heute wird die Dame im modernen Mittelklassewagen über Asphaltstraßen am Bahnhof vorgefahren – da mag dann das leichte Schwanken und Ruckeln auf sportlicher gepolsterten ICE-Sitzen nicht mehr als Schweben empfunden werden.



Alles besser, aber nichts gut

Wir beurteilen also unsere Erfahrungen nicht wirklich an den verblassenden Erinnerungen der Vergangenheit und genießen die Verbesserungen, sondern immer an den direkt vergleichbaren Erlebnissen der Gegenwart – und wenn über die Zeit eine Art von Erlebnissen deutlich angenehmer wird, wie der Komfort beim Autofahren, dann wird etwas anderes automatisch schlechter, selbst wenn auch dort die Qualität besser wird, wenn auch in geringerem Tempo.

Wenn das stimmt, dann werden wir nie zufrieden sein. Alles wird besser, aber nichts wird gut – sang Tamara Danz, die große Stimme von Silly, 1989. Wir laufen im Hamsterrad des technischen Fortschritts, der uns doch nicht befriedigen kann.

Jörg Friedrich geht immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nach. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Weltveränderung mit einem Wundern. Vergangene Woche fragte er sich, missfiel es ihm, dass sogar Bäckerinnen einen mit Gummihandschuh bedienen

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

Jörg Friedrich

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden