Sehr zum Wohl

Wundersamer Alltag "Prost" ist das neue "Lasset uns beten": Wir brauchen einen Kult, um den Alltag zu verlassen, findet unser Kolumnist – und hat den Alkohol als Teil des Kults ausgemacht

So richtig gemütlich wird der Abend erst, wenn der Wein im Glas ist. Sitzt man mit Freunden zusammen, dann darf ein Getränk, das Alkohol nicht nur in Spuren enthält, nicht fehlen. Und ist jemand dabei, der auf die Frage nach dem Getränk seiner Wahl antwortet, er bleibe heute lieber beim Wasser, dann sieht man ihm das zwar nach. Doch schon die Tatsache, dass man meint, Nachsicht oder Toleranz überhaupt aufzubringen, zeigt, dass der Genuss kleiner Mengen berauschender Getränke in gemütlicher Runde die selbstverständliche Norm zu sein scheint.

Man meint, das liege eben an dieser entspannenden, auflockernden Wirkung von Gebrautem, Gegorenem und Gebranntem. Aber das kann nicht sein, denn diese Wirkung ist zum einen nicht sicher. Mancher wird auch müde durch den Genuss solcher Getränke, andere werden laut und aggressiv. Intellektuelle Gespräche, gar das Philosophieren, kann anstrengender werden, die Disziplin der Zuhörer sinkt, auch die Gedanken verlieren an Präzision, die Sprache ebenso.

Zum anderen setzt die Wirkung ja schon lange ein, bevor die chemischen Prozesse der Bewusstseinsveränderung im Körper überhaupt begonnen haben. Wir werden nicht erst gemütlich, wenn der Alkohol unser Nervensystem erreicht hat.

Es beginnt schon mit der Frage: "Was wollt ihr trinken?". Noch schlimmer als die Antwort "Ich hätte gern ein Wasser" ist ja das schlichte "Nichts". Nichts trinken, das geht irgendwie gar nicht, dann wenigstens Apfelschorle. Man muss sie ja nicht sofort austrinken, man kann sich Zeit lassen. Wenigstens ein halbvolles Glas muss jeder vor sich hinstellen, damit der Abend gemütlich werden kann.

Tee? Noch okay

Dann kommen die ritualisierten Verfahren des Öffnens und Einschenkens der Getränke, die eigentlich nur mit alkoholhaltigen Flüssigkeiten funktionieren – vom Tee vielleicht abgesehen, da hat man, gerade als Philosoph, auch so seine besonderen Handlungen.

Die Gemütlichkeit ist dann erreicht und der Abend gelingt, wenn das Getränk im Glas ist, der Geruch in die Nase steigt, die Farben im Abendlicht spielen.

Da haben wir einen wichtigen Punkt: Das geht natürlich mit Wasser nicht. Der Vorrat an lobenden Worten über Geruch, Geschmack und Anblick von Wasser ist sehr begrenzt und wird auch bei Milch und Fruchtsäften nicht wesentlich reicher.

Alkohol ist ein Lösungsmittel und ermöglicht, dass viele Geruchs-, Farb- und Geschmacksstoffe in der Flüssigkeit enthalten sind, über die man sich freuen kann und über die man nachdenken, denen man nachspüren und über die man reden kann.

All das macht die Beschäftigung mit dem Getränk zum Kult. Und einen Kult benötigen wir, um aus dem Alltag in die Freizeit und die Gemütlichkeit zu wechseln. Wenn wir zusammensitzen wollen, nicht weil wir eine gemeinsame Aufgabe haben, nicht weil wir Nützliches vollbringen sollen, sondern weil wir unnützerweise dem Nicht-Notwendigen, aber Wesentlichen nachzugehen wünschen, dann brauchen wir, zu Beginn, einen Kult. Wir könnten auch sagen: "Lasst uns beten!" Aber das ist ein wenig altmodisch. Also sagen wir "Zum Wohl" oder schlicht "Prost".

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

Jörg Friedrich

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