So natürlich!

Wundersamer Alltag Jetzt, wo die Temperaturen steigen, machen sich viele wieder auf die Suche nach der Natur. Aber was finden wir da eigentlich, wenn wir am Wochenende ins Grüne fahren?

Der Frühling ist gekommen und das ist die richtige Zeit, mal wieder hinaus in die Natur zu fahren. Auch wenn’s noch etwas kalt ist, an diesem Wochenende, spätestens am 1. Mai, lockt die Natur mit ihrer Pracht, ihren Farben und dem Sonnenschein.

Aber wohin fahren wir, wenn wir "hinaus in die Natur" wollen? Wenn die Natur der Teil der Welt ist, in den der Mensch noch nicht ordnend eingegriffen hat, dann dürfte es schwer werden, innerhalb eines Wochenendes oder gar am Maifeiertag die Natur zu erreichen. Überall begegnet uns ja die Spur des Menschen, wenn wir von "Natur" reden, dann meinen wir zumeist den Stadtpark, sinnvoll geplant, angelegt und gepflegt, oder den Baggersee, mit ordentlich gezogener Uferlinie. Selbst da, wo wir den menschlichen Eingriff nicht sofort sehen, führt uns eine anständige Straße hin, die auf einem eingezäunten Parkplatz endet, von dem aus Wege mit Schildern und Tafeln "in die Natur" hinaus und sicher wieder zurück führen, Hackenschuh-taugliche Natur-Lehrpfade.

Aber wenigstens können wir dann in dieser Natur den Fotoapparat so halten, dass der Parkplatz und der Asphalt-Weg nichts ins Bild kommen. Wir sehen Blumen, die so dastehen, als würden sie ganz zufällig hier wachsen, und doch können wir die Kinder ganz unbesorgt daran riechen lassen, hier wächst – ganz zufällig – nichts Giftiges, nicht mal eine Brennnessel ragt aus dem Gebüsch.

Ort der Sehnsucht

Das heißt Natur. Die Natur ist der Ort unserer Sehnsucht – wir haben sie nicht zerstört, wir beherrschen sie nicht, und doch erwächst uns von ihr keine Gefahr. Die Natur unterscheidet sich von der Wildnis dadurch, dass sie überschaubar, verständlich und ungefährlich ist. Vor der Natur müssen wir keine Angst haben, sie ist nur schön, wie sie so unberührt da liegt und unser Auge erfreut, und wie es der Zufall will, gibt es in dieser Natur keinen Wildwuchs, keine Dornen, nur Blumen, keine Giftschlangen, nur Singvögel.

Diese Natur ist selbstverständlich durch und durch ein Produkt der Kultur. Selbst das Bergpanorama im Katalog ist schon der Kultur einverleibt, nicht nur, dass der Fotograf vermutlich auf der Terrasse eines Bergrestaurants steht, nicht nur dass er den richtigen Moment für sein Foto abgepasst hat, in dem die Sonne scheint, das Himmelsblau das Auge des Betrachters erfreut und nur ein paar dekorative Wolken hoch über dem schneebedeckten Berg ziehen – auch die Bergwelt selbst durchziehen ja geschickt angelegte Wanderrouten und Kletterpfade, farbig markiert und jährlich geprüft und gepflegt, auf Karten verzeichnet.

Natur ist das Stück Wirklichkeit, das der Mensch auf besonders geschickte Weise der Wildnis entrissen hat – nämlich so, dass er selbst diesen Eingriff ignorieren kann, dass er glauben kann, die Wildnis sei an dieser Stelle ganz zufällig so angenehm geordnet. Der Stein, den der Wegmacher beiseite geräumt hat, hätte auch zufällig so liegen können, der Strauch, der den Pfad versperrt hätte, wäre vielleicht auch von selbst im Vorjahr verdorrt. Mit der Natur betrügt der Mensch sich selbst über seinen gewaltsamen Eingriff in die Wildnis, ohne den er in der Welt gar nicht überleben könnte. In der Natur kann ich mir einreden, ich käme auch ganz ohne Kultur und Technik mit der rauen Wirklichkeit zurecht.

Auch beim Menschen sprechen wir ja gern von natürlichem Verhalten. Die Schauspielerin lacht so natürlich, kein bisschen gekünstelt – wie schön. Wie viel Arbeit, Studium und Selbstkontrolle in diesem Lachen liegt, wollen wir gar nicht wissen, weiß doch keiner, vielleicht war sie doch schon immer so nett und natürlich. Dem wilden Knaben hingegen müssen wir irgendwie noch beibringen, wie man sich kulturvoll verhält.

Bloß keine Wildnis!

Wildheit oder Wildnis macht Angst, weil sie unberechenbar und unverständlich ist. Sie bedeutet Gefahr, weil sie unsere kulturellen Strukturen in Frage stellt, wie das Unkraut, das zwischen den Gehwegplatten des Naturlehrpfades wächst.

Natur ist eine Illusion, wie es sich für den Ort einer Sehnsucht gehört. Es gibt nur Wildnis und Kultur und dazwischen die Täuschung, mit der wir uns einreden, die Welt könnte doch vielleicht auch ganz von selbst ein angenehmer Ort sein, an dem wir zurecht kommen, ohne ihn zu zerstören, der uns nicht gefährdet weil er, ganz natürlich, nur aus Angenehmem besteht, ein Schlaraffenland, ein Garten Eden.

Jörg Friedrich geht immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nach. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Weltveränderung mit einem Wundern. Vergangene Woche fragte er sich, wer eigentlich mehr Zeit hat junge oder alte Menschen?

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

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