Regeln muss man brechen können?

Wundersamer Alltag Souveränität ist ein großes Wort, sowohl in der Politik als auch im Freundeskreis. Aber wann sind wir wirklich souverän?

Es gibt Worte, die werden in der großen Politik ebenso oft verwendet wie im Alltag. Aber bedeuten sie auch dasselbe? Ist ihre Verwendung, aus der Welt der Mächtigen geborgt, im Alltag vielleicht nur eine leere Phrase, hoch tönend aber nicht hilfreich?

Souveränität ist so ein Wort. Staaten treffen souveräne Entscheidungen oder fühlen sich durch andere Staaten in ihrer Souveränität verletzt. Die europäischen Staaten sollen Souveränität nach Brüssel abgeben. Außerdem ist in einer Demokratie – so liest man es – das Volk der Souverän. Wir verlangen aber auch in alltäglichen Momenten von Freunden manchmal einen „souveränen Umgang“ mit einer unangenehmen Situation, wenn sie mit Ansprüchen anderer konfrontiert werden und darauf verunsichert, beleidigt oder unüberlegt reagieren. Aber wie verhält man sich souverän?

Carl Schmitt schrieb „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Das war natürlich auf staatliche Macht und zwischenstaatliche Konflikte gemünzt. Man hat Schmitt oft vorgeworfen, dass er die Begriffe immer nur über die Extremsituation bestimmen würde, als ob sich Souveränität nur im Ausnahmefall zeigen würde. Das ist aber nicht ganz richtig, denn Schmitt hat auch darauf hingewiesen, dass man von einem Ausnahmefall überhaupt nur reden kann, wenn es einen Normalfall gibt, in dem Regeln herrschen, die von allen akzeptiert werden, dass jedoch über das tatsächliche Herrschen der Regeln der Souverän bestimmt, der eben auch festlegen kann, wann die Regeln außer Kraft gesetzt werden. Wer sich in einem Ausnahmefall erfolgreich über Regeln hinwegsetzt und damit Erfolg hat, der ist souverän, und zwar auch im normalen Alltag, in dem er sich an die Regeln hält. Gerade dadurch, dass ich mich im Normalfall an die Regeln halte, obwohl ich auch jederzeit den Ausnahmezustand erklären könnte, zeige ich Souveränität.

Im Ausnahmefall die Regeln verletzen

Diese Begriffsbestimmung hilft tatsächlich in der internationalen Politik genauso wie im alltäglichen Moment. Ein bewegendes und viel diskutiertes Beispiel von Souveränität war vor zehn Jahren das Verhalten Wolfgang Daschners. Der damalige Polizei-Vizepräsident entschied sich in einer extremen Situation gegenüber einem Entführer und wahrscheinlichen Mörder zur Androhung von Gewalt, um seine Aussage zu bekommen, und setzte damit die geltenden Regeln souverän außer Kraft. Er entschied, dass in diesem Falle ein Ausnahmezustand herrscht. Das Beispiel zeigt: souverän ist nicht wer ständig gegen Vorschriften, Gesetze oder allgemeine Regeln verstößt, sondern souverän ist, wer für sich in einem besonderen Fall entscheidet, dass ein Ausnahmezustand eingetreten ist, in dem die Anwendung der eigentlich akzeptierten Regeln nicht mehr angemessen ist.

Wer ständig die erlaubten Geschwindigkeiten im Straßenverkehr überschreitet, ist nicht souverän, wer dies tut, um ein Menschenleben zu retten, hingegen schon. Wer sich normalerweise an die Regeln der Freundlichkeit und Höflichkeit hält, ist nicht weniger souverän als jemand, der ständig gegen diese Regeln verstößt, Souveränität zeigt sich, wenn solche äußerliche Zuneigung zur Farce wird, weil sie gegenüber einem Menschen verlangt wird, den man verachtet. Natürlich kann sich Souveränität dann auch darin zeigen, dass man seine Verachtung verbirgt, wenn man dies eben aus eigener freier Entscheidung heraus tut.

Regeln oder freier Wille?

Unsere Gegenwart ist davon geprägt, dass Souveränität verlorengeht. Das gilt ganz offensichtlich im Bereich der Politik. Souveräne Entscheidungen werden durch Regeln, die jeden Ausnahmefall berücksichtigen sollen, unmöglich gemacht. Die Gesetzgeber versuchen, auch noch den extremsten Fall, etwa die Entführung eines Flugzeuges durch Terroristen, vorab klar zu regeln. Der souveränen Entscheidung einer dazu ermächtigten Regierung wird misstraut.

Auch im Alltag gilt: Halte dich an die Regeln, auch wenn es dir gegen den Strich geht, und wo es keine klaren Regeln gibt, da halte dich am besten zurück und verhalte dich unauffällig.

Souveränitätsverlust heißt aber immer auch Verantwortungsverlust. Wo jemand souverän entscheiden müsste, ob dabei nun irgendeine Regel überschritten wird oder nicht, bleiben wir unauffällig am Rande stehen. Wir hoffen auf neue Vorschriften, die auch diesen Fall klar regeln sollen, statt souverän den Ausnahmefall selbst zu gestalten.

Jörg Friedrich geht immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nach. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Veränderung mit einem Wundern.

Vergangene Woche wunderte er sich darüber, warum manche Leute noch Pilze sammeln.

Jörg Friedrich twittert auch philosophische und politische Gedankensplitter. Im Sommer erschien sein Buch Kritik der vernetzten Vernunft.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

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