Warum geht der Mensch aufs Eis?

Wundersamer Alltag Kaum ist es ein paar Tage länger kalt und die Seen frieren zu, setzt auf den Eisflächen ein Massenwandern ein. Dahinter steckt die Sehnsucht nach ein bisschen Unvernunft

Der holländische Maler Hendrick Averkamp schuf vor rund 400 Jahren eine Vielzahl von Winterbildern, auf denen man fröhliche Menschen sieht, die auf zugefrorenen Seen herumspazieren. Das Gewässer befindet sich meist am Rande einer Stadt, die Bilder wirken wie Illustrationen zu Goethes Osterspaziergang – nur in der falschen Jahreszeit.

Der Mann hätte derzeit wieder seinen Spaß, die Motive auf seinen Bildern ähneln den aktuellen Fotos in den Medien – ob vom Aasee in Münster oder vom Heiligen See in Potsdam – zum Verwechseln. Mag sich in Europa in den letzten Jahrhunderten vieles geändert haben, die Freude am Spaziergang über zugefrorene Gewässer ist erhalten geblieben. Das ist umso verwunderlicher, wenn man bedenkt, dass die Zeitungen und Rundfunkberichte heute voll von Schreckensmeldungen über tödliche Unfälle und von Warnungen vor dem Betreten der Eisflächen sind. Und manch ein praktischer Grund, der vor Jahrhunderten noch dafür gesprochen haben mag, im tiefen Winter den Warentransport auf der ebenen Eisfläche dem buckligen Landweg vorzuziehen, ist heute obsolet geworden.

Was ist es, das die Menschen bei jeder der seltenen Gelegenheiten, die nur eine ungewöhnlich lang anhaltende Frostperiode bietet, auf die Eisfläche lockt? Warum machen sie das? Fragt man die Leute, die sonntags im Sonnenschein über die glatte, knackende Fläche spazieren, erntet man eher Unverständnis: "Es macht einfach Spaß!" – "Es ist ein tolles Gefühl!" Und: "Das kann man eben nur alle paar Jahre machen, das muss man ausnutzen!"

Anziehungskraft des Unvernünftigen

Solche euphorischen Reaktionen, die genau genommen die Frage nach dem Warum nicht beantworten, zeigen vor allem eines: mit Vernunft hat das Ganze nichts zu tun. Der Mensch, das wird beim Gang übers Eis klar, ist vielleicht zur Vernunft fähig, aber vernünftig ist er nicht. Und es mag sein, dass er sich zur Vernunft zwingen kann, wenn es sein muss, aber was er will, was ihn anzieht, ist das Unvernünftige.

Über den See zu gehen, das ist irgendwie unerhört, es ist eine Anmaßung. Man kann einfach an einen Ort kommen, den man sonst nur durch technische Hilfen erreicht, sei es, dass man die Technik des Schwimmens beherrscht oder dass man die Boots-Technik benutzt. Herumlaufen, das ist die selbstverständlichste aller Bewegungstechniken des Menschen, und wohin diese Bewegungsart uns bringen kann, da wollen wir auch hin – all das, was zu Fuß erreichbar ist, das zieht uns irgendwie magisch an, wohin auch immer man den Fuß setzen kann, dahin muss er auch gesetzt werden.

Umso unberührter die Eisfläche noch ist, desto magischer ist ihre Anziehungskraft. Vor dem Massenerlebnis des Sonntagsspaziergangs kommt das Wagnis, als erster auf der Fläche unterwegs zu sein. Es ist vielleicht der gleiche Drang wie der, der die großen Entdecker zu den Polen gezogen hat, der den Freizeit-Abenteurer aufs dünne Eis hinaustreibt. Es gibt keinen Sinn in diesem Tun, es hat keinen Zweck und keinen Grund. Es ist unvernünftig.

Wie schön das war

Aber schon ein paar Tage später folgen mehr und mehr Menschen denen, die es als Erstes ausprobiert haben, jeder will unvernünftig sein, und was man noch nach Jahren seinen Kindern oder Enkeln erzählt, ist nicht, dass man besonnen am Rand des Sees stehen geblieben ist, sondern dass man sich auch mit hinausgewagt hat, dass man mit den anderen zusammen hinüber gelaufen ist zum anderen Ufer – und wie schön das war.

Vielleicht ist es auch die Weite des Blickes, die man draußen auf dem Eis genießen kann. Auf dem See öffnet sich die sonst verbaute Gegend zur Landschaft, und die ist nicht verbaut, die ist nicht mal durch menschlichen Eingriff geformt. Bei dieser Weite, auf dieser glatten Fläche überkommt so manchen ein Übermut, ernsthafte Bürger beginnen zu rennen, schlittern und lachen noch, wenn sie ausrutschen, stampfen mit den Hacken übermütig aufs knackende Eis. Der Mensch ist kein vernünftiges Wesen, er wird allenfalls meistens durch die Verhältnisse zum Vernünftig-Sein gezwungen. Er lässt sich zwar nicht gern aufs Glatteis führen, aber wann immer es möglich ist – und das ist selten genug – geht er aufs Eis.

Jörg Friedrich geht immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nach. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Weltveränderung mit einem Wundern. Vergangene Woche wunderte sich Friedrich über behindertenfreundliche Bürgersteige.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

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