Warum Menschen sterben

Wundersamer Alltag Stirbt jemand an einer fehlenden Spenderlunge – oder nicht doch eher an Lungenversagen? Unser Kolumnist über die Logik der Transplantationsmedizin – und das Gewissen

In den Zeitungsmeldungen zum Transplantationsgesetz kann man gegenwärtig lesen, drei Menschen stürben täglich, weil es kein passendes Spenderorgan gebe; oder: Jedes Jahr stürben in Deutschland 1.300 Menschen, weil sie vergeblich auf ein Spenderorgan warteten. Das heißt: Die Ursache für den Tod eines Patienten ist, diesen Meldungen zufolge, dass es für ihn kein Spenderorgan gab.

Ein Beispiel: Ein Mensch raucht jahrelang so viel, dass seine Lunge versagt. Man könnte ihn retten, wenn man eine passende Spenderlunge hätte. Da man die nicht hat, stirbt der Mensch, nicht etwa an den Folgen des Rauchens, sondern an der fehlenden Lunge. Nicht sein Verhalten hat zum Tode geführt, auch nicht die biologischen Prozesse, die die Lunge und den Körper versagen ließen, sondern die Tatsache, dass niemand bereit war, seine Lunge zu spenden. Das ist eine verwunderliche Vorstellung von Kausalität. Aristoteles, der schon vor über 2.000 Jahren die vier Arten der Verursachung untersucht hat, hätte daran eine harte Nuss zu knacken. Scheinbar müssen die Philosophen des 21. Jahrhunderts sich auf den Hosenboden setzen und ihre Hausaufgaben machen und endlich eine fünfte Art der Verursachung beschreiben: das Nicht-Vorhandensein von Bedingungen, mit denen man die normalen Ursache-Wirkungs-Verbindungen außer Kraft setzen kann.

Unsere moderne Welt ist voll von solchen merkwürdigen Ursachen. In den Kliniken sterben Frühgeborene daran, dass die hochreine Luft der Spezial-Stationen nicht komplett von Krankheitskeimen freigehalten werden kann – und nicht etwa daran, dass sie auf dieser Welt leider noch nicht lebensfähig sind. Bergsteiger sterben daran, dass es zu wenig Rettungshubschrauber für unzugängliche Bergregionen gibt – nicht etwa an den Folgen eines Sturzes von der Felswand.

Technik, die vorauseilt

Ohne Frage ist es gut, wenn Technologien und Hochleistungsmedizin in der Lage sind, Leben zu retten, die im natürlichen Verlauf der Dinge unrettbar verloren wären. Und mit der Entwicklung und Bereitstellung dieser Technologien übernehmen diejenigen, die sie in der Hand haben, auch eine Verantwortung gegenüber den Menschen, bei denen sie Hoffnung geweckt haben. Deshalb müssen medizinische Geräte, so gut es irgend geht, keimfrei gehalten werden, deshalb müssen Rettungshubschrauber gewartet werden, und das diensthabende Personal muss einsatzbereit sein. Aber der Mensch ist nicht unsterblich, und er wird es durch Technologien und Apparate auch nicht werden.

Jede Technik, die Hoffnung gibt, ist auch für das Leid verantwortlich, das die Menschen durchleben, die vergeblich Hoffnung geschöpft haben. Im Falle der Transplantationsmedizin soll diese Verantwortung nun an die Menschen in de Gesellschaft zurückgegeben werden. Die Medizin macht Versprechungen, die sie nur einlösen kann, wenn Menschen bereit sind, ihre Organe, einen Teil ihres Selbst, zu spenden, sei es als Lebende oder sei es nach ihrem Tod. Damit wird die Verantwortung der Medizin an das Gewissen jedes Einzelnen delegiert. Jeder von uns soll sich schuldig fühlen, wenn täglich drei Menschen sterben, die doch noch leben könnten, wenn ein anderer bereit gewesen wäre, ein Organ zu spenden.

Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn nicht die Gefahr bestünde, dass das Gewissen des einzelnen mit dieser Entscheidung überfordert ist. Wir sollen über eine Frage nachdenken, für die wir keine kulturellen Normen, keine Traditionen, keine etablierten ethischen Prinzipien haben – und bei der es doch um Leben und Tod geht, um den eigenen Tod und um das Leben eines anderen.

Die Technologie der Transplantationsmedizin ist unserem Fühlen und unserer emotionalen Entscheidungsfähigkeit weit vorausgeeilt und stellt nun vom klaren Standpunkt ihrer Leistungsfähigkeit Ansprüche an unser Handeln. Sie will uns die Last der Versprechen aufbürden, die sie ohne uns nicht halten kann, aber sie kann uns die Fragen, die uns dabei bewegen, auch nicht beantworten.

Jörg Friedrich geht immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nach. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Weltveränderung mit einem Wundern. Vergangene Woche wunderte sich Friedrich über die Klage, dass alles schneller werde.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

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