Meine Kindheit war bunt und süß. Vor aufgeklebten Prilblumen stand auf der Anrichte neben der Spüle eine Flasche Multi-Sanostol („Saaanoossstoool! - Stärkt Appetit und Abwehrkäfte“). Meine Abwehrkräfte stiegen jeden Morgen, an dem es statt eines Apfels einen Löffel gelblichen Schleims gab. Es half nichts, ich wurde trotzdem älter. Statt Fußball oder Feuerwehr wählte ich dann die Freundschaft.
Diese fand draußen statt: Wir bauten Buden im Wald, Dämme im Fluss, Iglus im Schnee und Mist in der Schule. Unserer Fantasie waren keine Grenzen gesetzt, unserem Urlaub schon: die Ferien verliefen in Deutschland. Egal ob Bayerische Berge oder Norddeutsches Meer, beides war bis zum Kinderhass spießig. Man sprach Deutsch und benahm sich auch so.
Wieder zu Hause. Um in mein Zimmer zu gelangen, musste ich durch einen Angestelltenhaushalt mit Arbeiterattitüde hindurch. Der kleine Mann von der Straße saß am Küchentisch und blickte durch grauen Rauch auf eben diese Straße, an der sein Leben schon vor Jahren stehen geblieben war. Dann sprang er auf, weil der Rasen inzwischen gewachsen war. Es war das einzige, was er tat, doch dafür musste er alle zwei Wochen mit dem Mäher bestraft werden.
Mein Heranwachsen verlief im sandigen Landkreis, der geistige Tellerrand hatte die Größe einer Untertasse. Man kannte die Blutwerte des Nachbarn besser als die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl. Ignoranz kann ein Leben ausfüllen wie die wöchentliche Hoffnung den Lottoschein. Immer dieselben Zahlen, immer dasselbe Leben. Es war ein Kreuz. Dabei hatte ich mich von Gott direkt nach meiner Konfirmation freigekauft.
Unsere Autos waren Opel, mehrere, allerdings nacheinander. Sie waren ebenfalls bunt: erst gelb, dann grün, schließlich bordeauxrot bis kackbraun. In letzterem fuhr ich meinen Führerschein spazieren, aus Langeweile sogar bis in die Stadt. Dort klaute man mir spät abends die Radkappen. Opel-Plastik-Radkappen! Es musste Menschen geben, denen es noch schlechter ging als mir.
Das Gymnasium bot Zuflucht, Wissen bot Ablenkung. Dann kamen das Abitur und der Alkohol. Er gab mir die feuchten Küsse der besten Sportlerin des Jahrgangs. Er nahm mir zusammen mit einem Baum den besten Freund aus Grundschulzeiten. Mit dem Tod kam der Bund. Sechs junge Männer, die mit der Waffe in der Hand das Land verteidigen sollten, hörten nachts auf der Stube lieber Drei ???-Kassetten im Dunkeln. Was wir nicht begreifen wollten: Wir hatten unsere Kindheit endgültig gegen das Leben eingetauscht.
War es das wert?
...fragt Friedland...
Kommentare 23
In der Rückschau glänzen Kindheit und Jugend besonders gülden. Ich bin froh, von beidem nicht mehr belästigt zu werden. (Uff.) :-)
Du hast also die Sportlerin mit Alk und doch nicht mit Goethe rumgekriegt?
Damals habe ich gesehen, dass man sein Leben noch so stark polieren und dennoch von INNEN anlaufen kann.
Fanta mit Wodka, um genau zu sein...
Sportlerinnen hatten / haben immer den knackigsten Po ;)
Also, Streifzug, Du willst Dich also jetzt bei dieser und jener hier endgültig unmöglich machen, ja?
Spielt ruhig noch ein Wenig. Ich mach' jetzt Schluss für heut', muss morgen arbeiten (bin Einzel(handels)kind...)
Gute Nacht! Ich verzieh mich auch, jetzt ins Bett, morgen wird gepackt, und übermorgen gehts auf Tour, für etwas länger...
meisterfalk, das mache ich dann lieber hiermit:
Herr Losehand,
das zu glauben, ist mir schlichtweg unmöglich.
Aber solange Sie sich das selbst glauben, stimmt es ja.
>Was ein Mensch in seiner Kindheit aus der Luft der Zeit in sein Blut genommen hat, bleibt unausscheidbar.
Der Namen des Autors ist leider verlorengegangen.
Sehr geehrtes Fräulein Titta,
"Laßt Euch die Kindheit nicht austreiben: Schaut, die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab, wie einen alten Hut.
Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt.
Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen und was gegessen worden ist, existiert nicht mehr.
Man nötigt Euch in der Schule eifrig von der Unterstufe über die Mittelstufe zur Oberstufe. Wenn Ihr schließlich droben steht und balanciert, sägt man die ’überflüssig’ gewordenen Stufen hinter Euch ab, und nun könnt Ihr nicht zurück!
Aber müsste man nicht in seinem Leben wie in einem Hause treppauf und treppab gehen können? Was soll die schönste Etage ohne den Keller mit den duftenden Obstborden und ohne das Erdgeschoss mit der knarrenden Haustür und der scheppernden Klingel? Nun - die meisten leben so. Sie stehen auf der obersten Stufe, ohne Treppe und ohne Haus und machen sich wichtig. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene.
Aber was sind sie nun?
Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch!
Wer weiß, ob Ihr mich verstanden habt. Die einfachen Dinge sind so schwer begreiflich zu machen." (Erich Kästner)
Nicht zu bedauern, daß man nicht zweimal in denselben Fluß steigen kann, daß man nach schöner Kindheit und angenehmer Schulzeit ohne Nostalgie trotzdem sagen will: "Gut war's, aber nochmal? Bitte nicht", ist das so fremdartig und unglaubwürdig?
Sich seiner Kindheit und Jugend zu erinnern, muß nicht zwangläufig heißen, sie zu polieren, zu vergolden und im schlimmsten Fall zu suefzen: "Ach, nochmal 15 sein ..." Jetztes Lebensalter hat seinen Zauber und seine Zipperlein.
Also, wenn Du das für das "Literaturcafe2 geschrieben hättest, in dem ich früher mal zugange war, hätte ich Dir angekreidet, dass es zuwenig Beschreibungen und zuviel Betrachtung gibt.
Beispiel: "Mein Heranwachsen verlief im sandigen Landkreis, der geistige Tellerrand hatte die Größe einer Untertasse." Das muss man durch Schilderung untermauern, nicht nur Feststellungen. Das wäre allerdings verdammt aufwändig.
Andererseits - dem Ziel, schnell und ziemlich treffend die Atmosphäre der Kindheit zu schildern, kommt man mit Betrachtung näher.
Wie heißt denn das hübsche Buch: "Fleisch ist mein Gemüse" oder so ähnlich. Von diesem Strunk.
Da ist eine ähnliche Stimmung und Atmosphäre.
Ist auch - wie immer bei Dir hübsch ironisch. Ach, ist so schade, dsss man nicht mehr Zeit hat. Dann könnte man einen Ordner "Kindheiten" aufmachen und so allerlei erzählen.
Und dann fällt mir noch ein Link ein.
www.youtube.com/watch?v=aZUT0YjGQi4
Kinderspiele von Heinrich Heine
gesungen von Ester Ofarim
Geschichte ist Gewinn und Verlust, auch die individuelle Geschichte. Da kommt manchmal schon etwas Trauer auf.
Danke für die Tipps, Magda.
Auf Klaras Beitrag "Kohls Kind?" hab ich schnell mal einige mir verbliebene Kindheitseindrücke zusammengepackt. In einer halben Stunde aufgeschrieben, nicht eine Nacht drüber geschlafen, nicht nachgefeilt, nicht weiter geordnet. Es sollte eine rohe, rasche Replik in Bildern werden...
Das nächste Mal gebe ich mir (wieder) mehr Mühe, versprochen.
ich hätte noch ne doppel-deutsche kindheit im flüchtlingslager zu bieten und hessisch im watze-verddel als erste fremdsprache. defintiv: davor war alles schöner! sogar sächsisch...
@ Friedland: Ach, ein wenig roh und nicht nachgefeilt steht Dir auch ganz gut..
Übrigens bilde ich mir ja ein innerlich noch ganz viel Kind zu sein - das mag daran liegen, dass ich die Erwachsenen immer noch nicht verstehe?
Für mich sind Kinder die besseren Meschen und ein besserer Mensch wollte ich sowieso schon immer sein!
https://order.secure.myphotoclub.com/storage/users/93/93/images/11426/BlackWhiteKids.jpg
Sehr geehrter Hagestolz Losehand!
"Nicht zu bedauern, daß man nicht zweimal in denselben Fluß steigen kann, daß man nach schöner Kindheit und angenehmer Schulzeit ohne Nostalgie trotzdem sagen will: "Gut war's, aber nochmal? Bitte nicht", ist das so fremdartig und unglaubwürdig?
Sich seiner Kindheit und Jugend zu erinnern, muß nicht zwangläufig heißen, sie zu polieren, zu vergolden und im schlimmsten Fall zu suefzen: "Ach, nochmal 15 sein ..." Jetztes Lebensalter hat seinen Zauber und seine Zipperlein."
Was andres hätt' ich auch nicht zu sagen gehabt.
Es grüßt Sie hochachtungsvoll
Fräulein Titta
Das ist sehr schön, berührend, nachfühlbar.
Trostlos - und doch...
Erinnert mich an einige Kindheiten der Männer, die mir Ausschnitte davon zukommen ließen. Ich tippe auf Niedersachsen...
Ich habe eine Gänsehaut beim Lesen bekommen, und das passiert mir lesend nur bei richtig guten Texten. Behaupte ich jetzt mal. Vielleicht auch einfach bei Texten, deren Autoren man gut leiden zu können glaubt.
"Auf Klaras Beitrag "Kohls Kind?" hab ich schnell mal einige mir verbliebene Kindheitseindrücke zusammengepackt. In einer halben Stunde aufgeschrieben, nicht eine Nacht drüber geschlafen, nicht nachgefeilt, nicht weiter geordnet. Es sollte eine rohe, rasche Replik in Bildern werden..."
die ich jetzt endlich gelesen habe - pardon für den Verzug.
klara
lieber joachim,
danke für das kästner-zitat. aber wie vertragen sich:
"Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch!"
und dein "... nicht mehr belästigt zu werden."??
vielleicht hast du ja irgendwie ein bisschen recht mit dem " ... hätte ich Dir angekreidet, dass ...".
aber magda, mich erinnert deine kritik an deutsch in der anstalt, sei es schule oder tv.
ich hab mal eine literarische zeitschrift herausgegeben; dabei war es oft schon haarspalterisch genug zu entscheiden, zu zweit in der redaktion, was gedruckt wird und was nicht. es ist zuviel subjektivität im spiel.
für mich sind gedichte wie dieses von friedland so unantastbar wie sein verdecktes rechtes auge. ich könnte einzelne stilistische mittel benennen wie das oxymoronische mancher sätze, aber ich möchte nicht herumoperieren im text. er ist fertig. ganz. er lebt. atmet seine kindheit. nachspürbar. vielleicht muss ich das so sehen, weil ich auch in der tiefsten provinz aufgewachsen bin.
"aber magda, mich erinnert deine kritik an deutsch in der anstalt, sei es schule oder tv."
Ach was - das ist doch Quatsch. Wenn man was schreibt, muss man auch lernen, beurteilt zu werden. Und - solange man das eigene Urteil nicht für absolut hält - ist das meiner Ansicht nach vertretbar. Mir gefällt der Text ja auch.
liebe magda,
du bist mir ein lieber sparringspartner, merke ich.
"Das muss man durch Schilderung untermauern, nicht nur Feststellungen."
die lehrmeisterin sprachs, und zurück kroch etwas zu tief gebückt die antwort:
"Das nächste Mal gebe ich mir (wieder) mehr Mühe, versprochen."
was ist das? ein schlechter scherz!
vor allem, wenn dann folgt:
" ... ziemlich treffend ... hübsch ironisch."
aber du hast in deiner replik gesagt, dass dir der text ja auch gefällt. ok. ich mach gern mal ne metakritik. nix für ungut, magda.
@ Magda:
Ich bekomme gern Tipps und Hilfestellungen - das war damals beim Geräteturnen schon so...
Und wenn ich mich dafür bedanke, dann ist das durchaus ernst gemeint, auch wenn sonst oft Satire oder Ironie in meinen Beiträgen mitschwingen mag.
(Ich kann ja auch nicht jedes Mal mein Foto wechseln...)