Alle großen Aufbruchsbewegungen der neueren Geschichte sind Jugendbewegungen gewesen, angestoßen, geführt und weitergetragen von Menschen zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, die über die Pubertät hinaus waren, aber noch nicht durch Familiengründung und -sorge zur Einfügung ins Bestehende gestimmt. Das gilt für den Luther des Thesenanschlags (34 Jahre) wie für den Marx des Kommunistischen Manifests (30 Jahre), es gilt für die Protagonisten der Französischen Revolution wie für die Aktivisten jener literarischen Jugendbewegung, die sich nach der dramatischen Hervorbringung eines der Ihrigen - er hieß Klinger und wurde später General in russischen Diensten - "Sturm und Drang" nannte. Goethe war vierund
Counterstrike oder Klassenkampf?
Snobismus als Protest-Strategie Die "Generation Golf" ist die Rokoko-Generation der spätindustriellen Gesellschaft. Aber was kommt nach ihr?
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undzwanzig, als er den Götz und den Ur-Faust, und er war fünfundzwanzig, als er den Werther schrieb, Schiller im selben Alter, als er mit den Räubern das deutsche Theater erschütterte. Dies alles waren Werke auf jener so fruchtbaren wie krisenträchtigen Schwelle zwischen Jünglings- und Mannesalter, zwischen Pubertät und Erwachsensein, da man noch zu jung ist für umstürzende Politik, nicht aber für den vorwärtsstürmenden Ausdruck jener Jugendverzweiflung an der bestehenden Welt, die ihren Ausweg oft nur in Mord oder Selbstmord oder in der Verbindung von beidem sieht. Friedrich Maximilian Klinger, der 24-jährige Autor von Sturm und Drang, hatte zuvor das Trauerspiel Die Zwillinge auf das deutsche Theater geschleudert, ein Stück, in dem es in bis zur Komik zugespitzter Form um das feudale Privileg der Erstgeburt ging. Das war die Kain-und-Abel-Geschichte der Bibel in einer auf akute gesellschaftliche Probleme zielenden Einkleidung, und in Schillers Bühnen-Erstling drang wenige Jahre später dasselbe Ur-Thema durch. Hier ist es der jüngere und damit von vornherein benachteiligte Bruder, der bei dem Vater so erfolgreich gegen den Älteren intrigiert, dass dieser, enterbt und verstoßen, in seiner Verzweiflung eine Räuberbande um sich versammelt, an deren Spitze - es sind überwiegend entlaufene Studenten - er zum Schrecken des Establishments wird, plündernd und raubend durch die Lande ziehend und nur die Armen verschonend. Einmal gerät eine ganze Stadt in Brand, als die Bande, um einen der Ihren vor dem Galgen zu retten, dort den Pulverturm in die Luft jagt; die Todesopfer sind kaum zu zählen. Auch an der Wurzel der Robert-Steinhäuser-Geschichte aus dem alten, dem neuen Erfurt steht ein Bruderzwist. Der ältere Bruder ist der an Leistung, Erfolg, allgemeiner Beliebtheit haushoch überlegene, und der hoffnungslos abgeschlagene jüngere bricht, nachdem eine Urkundenfälschung aufgeflogen ist, in Mordlust und Entsetzen aus, allerdings: ganz für sich allein, ohne jenes Gruppenmoment, die Kollektivierung des eigenen Hasses auf die Älteren, auf die Gesellschaft, das den Räuberhauptmann Karl Moor so trägt wie die revolutionären oder pseudorevolutionären Aufbrüche ganzer Generationen, bis hin zu den Achtundsechzigern und dem sich von ihnen abspaltenden Mörder-Flügel der RAF. Bei Karl Moor, dem hochintellektuellen Schillerschen Räuberhauptmann, nicht anders als bei Andreas Baader bietet nur das Gruppenhandeln die Gewähr jener Publizität, auf die es ihnen wesentlich ankommt: auf den Ruhm der Untat, das allgemeine Besprochen-Werden. Schiller selbst erreicht es auf eine a priori theatralische Weise, indem er über den exzessiven Räuber - ein Theaterstück schreibt. Bei Robert Steinhäuser, dem Zögling von Counterstrike, dem mörderischen Computerspiel, und dem Guiness-Buch der Rekorde, entfällt diese kollektive Dimension. Statt wie Baader und Klar (und vormals die Zarenattentäter des russischen Anarchismus) zu vielen jeweils einen umzubringen, unter Hinnahme weiterer Opfer, tötet der eine, nachdem er sich durch ein Ganzkörperkostüm in eine Kunstfigur verwandelt hat, die vielen. Zuvor hat er im Laden ohne jede Schwierigkeit die fürchterlichsten Waffen eingekauft; die Gesellschaft selbst rüstet ihn aus, als warte sie auf sein Erscheinen. Und er kann, sich das schwarze Trikot überstreifend, sicher sein, als der Heróstratos des Gymnasialattentats in die Zeitgeschichte einzugehen: ein Rekordhalter auf eigene Faust, der auch international höchste Beachtung findet. TIME, die berühmte amerikanische Illustrierte, setzt sein Konterfei auf eine Titelseite, die sonst Staatsmännern, Spitzensportlern oder Filmstars vorbehalten ist.Diffus und allgegenwärtig Den Vorgang, der hier auf extreme Weise Gestalt gewinnt, hat Ralf Dahrendorf, der britische Lord und deutsche Soziologe, als "Individualisierung des Konflikts" zu beschreiben versucht (*). Er tat es in einem Vortrag nach dem New Yorker Hochhausanschlag, der mit dem Amoklauf des verhinderten Abiturienten drei Momente gemein hat: die auf die Medien berechnete Theatralizität, die absolute Rücksichtslosigkeit gegenüber der Zahl der Opfer und die kalkulierte Preisgabe des eigenen Lebens. Der Unterschied zwischen beiden liegt, außer in der quantitativen Dimension, in dem Aspekt des Gruppenhandelns. Mit seiner summarischen Formulierung zielt Dahrendorf auf eine Situation, in der soziale Konflikte ohne Klassen ausgetragen werden und damit ohne den Rückhalt eines kollektiven, gleichsam ständischen Selbstbewusstseins; stattdessen der Vernichtungs- und Selbstvernichtungskampf aus der - so empfundenen - Situation grenzenloser Ohnmacht, des Abgehängt- und Unnützgeworden-Seins. "Auch das Verbrechen", schreibt Dahrendorf, "ist eine Form der Individualisierung sozialer Konflikte", und kommt auf die Gruppenformen des Phänomens zu sprechen, die ihm nicht im Widerspruch zu der Perspektive der Individualisierung stehen: Rauschgifthandel, Mafia-Globalisierung, den suizitären Terrorismus der Märtyrer-Attentate. "Der Konflikt", so sein Fazit, "ist diffus und daher allgegenwärtig"; dies sei "in gewisser Weise das Grundmerkmal des modernen sozialen Konflikts überhaupt". Auch in zurückliegenden Geschichtsepochen hat ein mörderischer Anarchismus, individuell oder organisiert, immer dann um sich gegriffen, ehe die Konflikte durch das Erstarken der sozialen Bewegungen die Form von Klassenauseinandersetzungen angenommen hatten; an dem Russland des 19. Jahrhunderts mit seinen nicht abreißenden Attentaten auf die Protagonisten der Autokratie wird das besonders deutlich. Doch es ist die Frage, ob ein solches Transformieren des individuell oder kollektiv anarchischen Protests zum klassenbewussten im 21. Jahrhundert noch gelingen kann, und eine andere Frage ist, welche Folgen das haben würde; nicht nur die russische Geschichte zeigt, dass Klassenkämpfe in der Krise massiert terroristische Formen annehmen können. Hinter all jenen Phänomenen, die Dahrendorf als die verbrecherische Individualisierung sozialer Konflikte beschreibt, steht eine hemmungslos angeheizte technologische Entwicklung, die die menschliche Arbeit - nicht nur die Hand-, sondern auch die Kopfarbeit - in rasendem Tempo an immer teurere, immer effizientere Maschinen delegiert hat. Deren Vormarsch auf allen Gebieten hat in den neunziger Jahren eine wirtschaftliche Scheinblüte bewirkt, der nun das böse Erwachen folgt, das In-Sicht-Kommen der Folgen eines rein technizistischen Fortschritts, dessen inneres Gesetz nicht mehr die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist, sondern die Abschaffung des Menschen durch den Menschen. Von daher ist das Überhandnehmen von Selbstmordattentaten an vielen inneren und äußeren Fronten tatsächlich ein Menetekel. Wie steht vor dieser Lage jene um das Jahr 1970 geborene Generation, die ihrem Alter nach dazu berufen ist, in näherrückender Zeit das Heft in die Hand zu nehmen? Ihre ironisch gebrochene Stimme schlägt uns aus einem Büchlein entgegen, das eine Generationssatire in Wir-Form vorstellt, in Florian Illies´, des jugendlichen FAZ-Redakteurs, Generation Golf, der leichthändigen Beschreibung des Lebensgefühls einer jeunesse d´orée, der ihre reform- und demonstrationsversessene Elterngeneration das Glück der später Geborenen gönnen sollte. Sie hat ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Revision jener aktivistischen Geschmacks- und Traditionsverleugnung, in der ihre Elterngeneration sich oft noch erging, als sie bereits zu jenem Marsch in die Institutionen aufgebrochen war, der ihren begabtesten Repräsentanten schließlich auf den Kanzlerthron führte.Ein neuer Sturm und Drang? Diese sich spielerisch-ironisch von Markenartikeln und deren Medien-Image her definierende Generation zeigt sich fernsehgeprägt, aber nicht von Monitor und Lindenstraße, sondern von den sich leichthin fortspinnenden Vorabendserien der Privatsender bis hin zu dem dekorativen Plappermäulchen der als Überleitungsvirtuosin durchschauten Verona Feldbusch. Sie begreift in Harald Schmidt, dem Kabarettisten auf der Höhe des allbeherrschenden Blödsinns, ihren "großen Erzieher" und bekundet außerhalb ästhetischer Fragen, in denen sie sich, vom gebügelten Hemd bis zur Vorliebe für Altbauwohnungen, als vollkommen treffsicher erweist, einen programmatischen Hang zur Indifferenz. Das ist ihre Waffe im Generationskampf mit einer Elterngeneration, deren reformistische Aufgeladenheit ihr ein Greuel und eine Anfechtung war. Sie hat ihr standgehalten, nicht indem sie ihr offensiv entgegentrat, wie die 68er ihren Eltern, sondern indem sie die ödipale Konfrontation unterlief: Snobismus als Protest-Strategie. Wird es ihr auf die Dauer gelingen, in dieser egozentrischen Sanftmut zu verharren? Wie wird die Generation beschaffen sein, die nach ihr kommt, erzogen nicht mehr von einer fast zwanzigjährigen Hausse, sondern einer um sich greifenden Baisse? Und wie wird sich das alles in Deutschland nach Ost und West differenzieren? Denn die Generation Golf ist natürlich eine westdeutsche Generation, sie ist ein Mittelstandsphänomen der späten Alt-Bundesrepublik. Im vereinten Deutschland sind die Generationserfahrungen in allen Altersgruppen verschieden; wie sehr, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die 68er des Westens in der DDR gleichsam die 49er waren, die Gründer-Jugend der frühen Republik (soweit sie nach links tendierte), also die um 1928 Geborenen. Die Phasenverschiebung zwischen den Generationserfahrungen hier und dort wird überlagert von zahlreichen gesamtkulturellen Gemeinsamkeiten auch und gerade in der Zeit vor 1989; sie ist dennoch beträchtlich. Als die linken West-68er noch an die sozialistische Revolution glaubten, hatten die Ost-68er diesen Glauben gerade dauerhaft eingebüßt. Aber beiden wurden die langen Haare ungefähr gleichzeitig von Lehrern, Polizisten oder Richtern gestutzt. "Doch diesmal ist er von den Neusten; / Er wird sich grenzenlos erdreusten": mit diesen Worten sieht in Faust II der in die verlassene Wittenberger Studierstube zurückkehrende Mephistopheles dem stürmischen Baccalaureus entgegen, dem er in Fausts Professorenrock einst den Glauben an die Wissenschaft verstört hatte. Nun schwingt der junge Mann sich ihm gegenüber als Lehrmeister auf, und als ein sonderlich harscher; er präsentiert sich dem altgewordenen Teufel als ein Originalgenie, das die alte Generation am liebsten abservieren möchte. Der Hörer im Lehnstuhl nimmt es mit Humor und weiß: "Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet, / Es gibt zuletzt doch noch e´ Wein." Kein Zweifel, jene Generation, die uns Florian Illies malt, eine, die sich nicht flegelhaft-abfertigend, sondern skeptisch-genießerisch zu den Offerten der Realität verhält, ist auf des alten Mephisto Seite. Ihr stehen Veränderungen bevor, aus sich selbst und aus denen, die nach ihr kommen. Die Generation Golf in ihrer wohlgepolsterten Welt- und Ich-Distanz, ihrer entschlossenen Ästhetik, ihrem Fein- und Qualitätssinn - es ist die Rokoko-Generation der spätindustriellen Gesellschaft, und es könnte wohl sein, dass ihr ein neuer Sturm und Drang ins Haus steht. Wir wollen es ihr nicht wünschen, aber ein wenig wappnen sollte sie sich schon.(*) s. Ralf Dahrendorf, Klassen ohne Kampf, Kampf ohne Klasse, in: FAZ vom 9. 3. 2002Die vollständige Fassung des Essays ist in dem binnen kurzem erscheinenden Buch von Friedrich Dieckmann Die Freiheit ein Augenblick, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2002, enthalten.
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