Die Weisheit des Volkes

Der Vorhang auf - und alle Fragen offen Deutschland nach der Wahl

Auch sehr alte Hasen erinnern sich nicht, dergleichen schon einmal erlebt zu haben: einen Wahlausgang, so knapp, dass der Verlierer, von falschen Hochrechnungen irregeführt, anderthalb Stunden nach Schließung der Wahllokale als Triumphator vor die Kameras tritt und selbst schnelldruckende Zeitungen anderntags nur ein falsch angenähertes Ergebnis mitteilen. Hatte die Weisheit des Volkes den nie dagewesenen Tatbestand herbeigeführt, dass die beiden größten Parteien ein bis auf die erste Dezimalstelle gleiches Prozentergebnis vorweisen konnten? Ihre Programme hatten sich nach Ziel- und Mittel-Vorgaben nur in Nuancen unterschieden; dass dies dennoch eine Richtungswahl war, lag an dem völlig unterschiedlichen politischen und persönlichen Profil der beiden Hauptkandidaten.

Um von der habituellen Aufgeregtheit des einen Bewerbers abzulenken, hatten sich dessen Parteigänger darauf verständigt, den regierenden Kanzler als Medienkanzler abzuqualifizieren, als ob die Gabe, angesichts von Kameras eine gelassene Ausdrucksfähigkeit zu bewahren, gegen einen Politiker spräche und als ob nicht gerade "die Medien" - nämlich einige besonders einflussreiche - in den Monaten vor der Wahl heftig gegen ihn Stimmung gemacht hätten. Aber abgesehen von der Tatsache, dass sich Schröder nicht nur als der ruhigere, sondern auch als der bessere Redner von beiden herausstellte, war es dem von einem ausgepichten Wahlkampfberater zur Vermeidung aller Ecken und Kanten angehaltenen Stoiber nicht gelungen, seine Verwurzelung in dem Lager rechts von der Mitte vergessen zu machen. Im Namen der gleichen programmatischen Mitte standen beide Kandidaten für ganz verschiedene, obschon seit langem angenäherte Herkünfte und Bezüge.

So war dies eine verdeckte, verschleierte Richtungswahl; an ihrem Ende erwies es sich als politisch praktikabel, dass jene Prise Direktwahlrecht, die das Wahlsystem der Republik mit der Möglichkeit von Zusatzmandaten dem Verhältniswahlrecht beimengt, die Differenz der beiden Hauptparteien soweit vergrößerte, dass eine sichere Regierungsmehrheit zustande kam. Denn ein Abstand von elf beziehungsweise neun Stimmen ist eine sichere Mehrheit, gerade weil es eine knappe Mehrheit ist; als solche wirkt sie auf den einzelnen Abgeordneten disziplinierender als komfortable Relationen. Die Verstärkung eines eindeutigen, aber knappen Gesamtverhältnisses durch Zusatzmandate ist im Jahre 1994 Helmut Kohl zugute gekommen (und 1998 einem sehr viel besser dastehenden Gerhard Schröder); die neue Wahlkreiseinteilung war bestrebt gewesen, die Möglichkeit dazu einzuschränken. Dass sie sie nicht völlig verhindert, kann für einen demokratischen Vorteil gelten; es gibt keinen Grund, am Wahlgesetz zu rütteln oder gar ein reines Verhältnis- oder ein reines Direktwahlrecht einzuführen.

Aber sonst gibt es schon einiges zu ändern in der Republik. Eine Staatsreform steht an, die bereits in der ersten Legislaturperiode der deutschen Staatseinheit zu leisten gewesen wäre; es war das sich an Helmut Kohls Gestalt heftende ungeheure Trägheits- und Selbstgefälligkeitsmoment, das eine Überprüfung des Staatsgefüges damals unterband. Wenn die unterlegenen Parteien nun schon wieder hoffnungsvoll (das von dem Dramatiker Hacks erfundene Wort händelgeil legt sich nahe) auf Bundesratsauseinandersetzungen und die nächste Landtagswahl blicken (hätten andere gesiegt, täten es diese), so lenken sie den Blick auf die staatsrechtlichen Voraussetzungen dieses in jeder Lage triumphierenden Parteienegoismus: die Tatsache, dass der Bundesrat seit langem weniger als Ländervertretung denn als ein parteipolitisch formiertes Blockadegremium gegenüber der Bundeskompetenz funktioniert und dass die regellos über eine Bundestagsperiode verstreuten Landtagswahlen der deutschen Politik etwas auferlegen, was Arnulf Baring mit Recht einen permanenten Wahlkampf genannt hat.

In dieser Lage wird jedes eingreifende Gesetzesvorhaben, ehe es in seinen Folgen wirklich kenntlich geworden ist, zu Verlusten der Regierungsparteien an der Landtagswahlfront führen, die im Bundesrat den opponierenden Parteien zugute kommen - ein Zustand permanenter Handlungserschwernis, der den großen Interessenverbänden zusätzliche Möglichkeiten bietet, politischen Druck auszuüben. Was man Konsensdemokratie genannt hat (es handelt sich um eine verfassungsrechtlich garantierte Blockpolitik), ist auf diesem Weg substantiell mit jener korporatistischen Lähmung verknüpft, die vor allem von Unternehmer- und Arbeitnehmerverbänden ausgeht. Es ist diese Situation, die den Parteien Programmwahlkämpfe a priori verunmöglicht. So kam es, dass kein Politiker sich in dem zurückliegenden Wahlkampf jenseits von Schlagworten wie "Leistung" und "Solidarität" (alle verteidigten immer beides) ein Maß an politischer Konkretion leisten konnte; er wäre von der Kombination aus Massenmedien und Verbandsinteressenwacht sogleich zu Fall gebracht worden.

Die Weisheit des Volkes - es war der späte Brecht, der diesen liebenswürdigen Begriff aufgebracht hat, in Gedichten, die das Übergehen dieser Weisheit durch eine Obrigkeit behandelten, die sich vor der Möglichkeit der Abwahl sichergestellt hatte. Wenn das Volk als das Orakel agiert, zu dem die Politiker in gemessenen Abständen wallfahrten, um sich Berechtigungsscheine für die Ausübung ihres Gewerbes ausstellen zu lassen, hat es außerhalb von Lyrik die Möglichkeit, seine Weisheit zur Geltung zu bringen; ist es ihm diesmal gelungen? Nur die Zukunft kann es lehren; sicher ist, dass es fachmännisch geurteilt hat, Professionalität belohnend und Unprofessionalität bestrafend. In der Schlussphase dieses Wahlkampfs griff an mehr als einer Stelle ein Laienspielertum Raum, von dem nur die CDU und die Grünen sich ausnahmen; sie wurden dafür mit vorzüglichen Ergebnissen belohnt. Dass eine Partei, deren Talent zum politischen Dilettantismus sprichwörtlich geworden war, es fertig brachte, hinter ihrem endlich auch von ihr selbst anerkannten Spitzenmann einen gesammelten, wirkungsvollen, die alberne Bonus-Affäre hinter sich lassenden Eindruck zu machen, war außer Schröders Sicherheit im Umgang mit unvorhersehbaren Anforderungen das eigentliche Ereignis dieses Wahlkampfs.

Das Gegenschauspiel lieferte die ihrerseits perfekte Unprofessionalität zweier anderer Parteien im Umgang mit dem Wahlvolk: der FDP, die mit Parachutismus und andern Luftnummern auf die Restbestände der Spaßgesellschaft zielte und mit der Einmischung in einen außerdeutschen Fernkonflikt die deutschen Muslims und wer weiß wen noch hinter sich zu bringen hoffte, und der PDS, die, nachdem sie ihren Spitzenmann erst an die Berliner Landesregierung und dann an die Lufthansa verloren hatte, mit einem Quartett für sich warb, dessen Bildpräsentation an einen bestimmten Typus in Öl gemalter Brigade-Szenen aus den sechziger Jahren erinnerte; vor allem der sacht erhobene Zeigefinger von Gabi Zimmer erfreute erfahrene Ikonologen.

Gabi Zimmer ist in ihrer oratorischen Dezenz, dieser zur Haltung geronnenen Zurückhaltung eine viel zu rührende Erscheinung, um sie der eloquenten Virilität Gregor Gysis nicht vorzuziehen, aber die Redlichkeit der Kontur hinderte nicht, dass sie dazu bestimmt war, zur Galionsfigur eines bundespolitischen Untergangs zu werden. Ob dieser zu einer inneren Klärung, einer programmatischen Orientierung (oder Okzidentierung?) einer Partei führt, die nun kenntlich in drei Lager zerfallen wird: in Fundis, Realos und vermittelnde Pragmatiker, und ob eine Klärung, wie immer sie ausfällt, die Schrumpfung der Partei aufhalten kann, ist unter Beobachtern strittig; es hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Krise des kapitalistischen Weltsystems, die sich durch den angekündigten Ölkrieg verschärfen wird, sich kumulativ entwickelt oder als aufhaltsam erweist.

Auf eine solche Verschärfung zu spekulieren, wie es die Sache linker Flügelkräfte sein könnte, würde die Partei in den sicheren Untergang treiben, selbst wenn die radikale Linke davon zeitweilig Aufwind bekäme; die deutsche Geschichte, auf die man an dieser Stelle rechtens verweisen darf, hält drastische Exempel dafür bereit. Es könnte sein, dass der PDS in ihrer andersartigen Ecke ein Schicksal wie der einstmals einflussreichen Bayernpartei beschieden sein wird, deren erhebliche regionale Bedeutung nach dem Ende des Deutschen Reiches sich mit der Konsolidierung der BRD in den sechziger Jahren erschöpft hatte; andere Parteien absorbierten danach in Bayern ihre landespolitischen Akteure.

Aber welche Folgen hat der Ausfall der PDS im Bundestag für die deutsche Politik? Hätte die Partei ein drittes Direktmandat gewonnen und/oder die Fünf-Prozent-Hürde überwunden, so hätte Schröder entweder allein mit Frau Merkel oder aber mit Fischer und Westerwelle eine Regierung bilden müssen; damit wären die politischen Voraussetzungen für anstehende Reformen und die damit verbundenen Einschnitte in einen nicht mehr bezahlbaren sozialen Standard besser geworden. Denn die erst unter SPD-, dann unter CDU-Kanzlern aufgekommene Ansicht, dass es gut und förderlich sei, im Staate mehr auszugeben als einzunehmen, ist an eine Grenze gelangt, jenseits derer die Abwärtsentwicklung sich beschleunigen würde; hier einzugreifen bedarf es gesammelter Kräfte. Wird die alt-neue Opposition sich staatsmännisch oder eigensüchtig verhalten? Sie wird das eine deklarieren und das andere tun, und so alle andern. Die Viskosität des Ganzen ist von Seiten der Regierenden wie der Regierten, der Verfassung wie ihrer Handhabung vorgegeben, und die Erfahrung lehrt, dass nur der akute Notstand Verflüssigungsmittel freisetzt.

Wird der drohende Irak-Krieg ihn heraufführen? Schon nimmt der jüngere Bush die ganze Welt zur Geisel seines Kriegsprojekts, indem er öffentlich verkündet: Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns! Wer kommt da auf völlig unpassende Gedanken? Leider nicht die amerikanische Regierung selbst. Statt in sich zu gehen, verlegt sie sich auf ein Übelnehmen, das ihr die Stammtischrederei einer für ihre Streiche gefürchteten Schwäbin allerdings leicht gemacht hat. Fürchtet man in Washington den neuen deutschen Emanzipationsweg? Was man dort wirklich fürchtet, ist ein politisch souveränes Europa; dessen einigen Einspruch gegen das hegemoniale Abenteurertum wäre weniger leicht abzutun als die Anti-Kriegs-Position eines Mittellandes, das laut 48-jährigem Vertrag sowieso kein Recht hat, den USA Fluggenehmigungen und Truppenstationierungen zu verweigern. Der Vorhang auf und alle Fragen offen - so ist Deutschland nach dieser Wahl am ehesten zu beschreiben.

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