Alle Jahre wieder, möchte man sagen, alle Jahre wieder bietet sich eine neue Überraschung in der Einkaufszone des Quartier 206 an der Berliner Friedrichstraße für die nicht mehr daran interessierte Öffentlichkeit. In der von Oswald Matthias Ungers entworfenen Architektur wurde einst im Innenhof eine über zwei Stockwerke sich aufrichtende Metallskulptur von John Chamberlain aufgestellt. Die Wahl des verwendeten Materials ist für Chamberlain typisch, es handelt sich dabei um Formteile aus der Autoindustrie. Die geometrische Gestalt dieses Turm der Klythie, so der Titel des Werkes, ist schon nicht mehr so typisch für ihn. Hier folgt der Bildhauer den Vorgaben des Architekten und macht sich quadratisch - eingepasst. Die "Kunst im Bau" - und diesen Begriff könnte man in diesem Fall auch umgangssprachlich doppeldeutig verstehen -, erscheint hier als eine vermeintliche Synthese von Skulptur und Architektur und ist doch nur eine auf das Formalistische reduzierte Variante dessen, was aus amerikanischer Tradition einmal als "site-specifity" - als Standortbezug - entwickelt worden war. Alle Jahre wieder aber kann man in der Vorweihnachtszeit feststellen, wie öffentlich abgestellte, privat aufgestellte Skulptur als neue Tendenz einer reinen Investorenkunst auftritt. Irgendwie hat sie doch, auf lächerliche Weise, etwas mit dem Ort zu tun, wohin man sie verbracht hat. Dann dekorieren die Ausstatter der Geschäfte das Werk zu einem wahren weihnachtlichen Gesamtkunstwerk der Warenwelt. Der Bildhauer wurde offenbar nie gefragt, und wenn auch, er hat seine Eigentumsrechte längst verkauft. Ihm bliebe nur noch der Rechtsstreit um seine künstlerische Autorschaft mit der einzigen Option einzuklagen, sein Werk entfernen zu lassen, zumindest während der Weihnachtszeit.
Die Touristen, die Besucher, die gelangweilten Flaneure dieser benjaminschen Passagen der neuen Mitte Berlins, sie befinden sich im Zentrum ihrer Unkenntnis und Unwissenheit. Wie sollten sie auch wissen, wie´s gemeint war, das Kunstwerk. Wenn es keine Vorkenntnis gibt und noch weniger Orte in Berlin, die zum Vergleich anregen, kann man nicht lernen, wie eine künstlerische, das heißt eine vielfältige Perspektive, auf ein solches Werk aussähe. Von der elitären Verzweiflung einer Minderheit, die um den Frevel weiß, wollen wir schweigen. Sie gilt doch nur als Spaßverderber. So werden in aller Öffentlichkeit und vor den Augen eines selbstgenügsamen Publikums künstlerische Werte allmählich abgetragen und der anspruchsvolle Betrachter wird zum Buhmann, der sich entschuldigen muss für das Mehr an Kenntnis und die Erkenntnis, dass das alles mit Respekt vor Kunst oder Kultur wenig zu tun hat. Der unangemessene Umgang mit dem Kunstwerk wäre nicht einmal zu beklagen, würde der Investor ihn in seiner privaten Sammlung hinter verschlossenen Türen praktizieren. Aber er schändet die Kunst vor den Augen der Öffentlichkeit auf hohem Niveau.
Hier setzt die eigentliche Veränderung ein. Welchen Vorwurf kann man noch den anonymen Graffiti-Sprayern machen, wenn namhafte Dekorateure das Gleiche tun? Welche Argumentation zählt noch, wenn es sich hier um öffentlich zur Schau gestelltes Privateigentum handelt und damit eine Tendenz deutlich wird, die solchen Umgang mit Bildwerken in Berlin immer mehr bestimmt: die Privatisierung des öffentlichen Raumes durch Konzerne. So kann Stefan Balkenhol nur dankbar sein, dass im Hof der Dresdner Bank neben dem Brandenburger Tor im Sommer nur die Sonnenschirme, Tische und Bänke des Restaurant Tucher stehen, auf die seine Große Figur mit grünem Hemd zu schauen hat. Und Jonathan Borofsky hat wohl, mit dem Schicksal seines Landsmanns Chamberlain vor Augen, seine Three Molekular Man für die Berliner Zentrale der Allianz Versicherung an den Treptowers gleich in die Spree gesetzt, in eine so extrem öffentliche Lage, dass es nur für Greenpeace-Aktivisten erreichbar wäre. Die "ästhetische Umweltverschmutzung", wie es Beuys 1977 einmal formuliert hat, schreitet voran und einher mit der Privatisierung vormals öffentlicher Räume. Es wäre allen zukünftigen Bildhauergenerationen nur zu raten, so schlau zu sein wie Borofsky und sich der Spree zu bemächtigen, um mit diesem Konzernwahrzeichen die neuen Hoheitsembleme öffentlich zu privatisieren. Oder aber aber Verträge abzuschließen, die das Schicksal der Chamberlain-Skulptur zum Vorbild haben, wo es nur noch zwischen der Alternative zu entscheiden gilt, alles oder nichts: strikte Unantastbarkeit mit vertraglich festgesetztem Mindestanstand oder Abbau während der Weihnachtszeit.
Berlin ist nun leider auch die Stadt, in der diese Tendenz der Privatisierung auf Räume übertragen wird, die eigentlich nicht privat genutzt werden und auch nicht in privater Trägerschaft stehen, wie die Neue Nationalgalerie an der Potsdamer Straße. Zwar gilt die Würde dieses Hauses in manchen Kunstfragen als unantastbar. Aber wenn es nichts mit Kunst zu tun hat, kann man die Architektur von Mies van der Rohe durchaus als die neue Mehrzweckhalle Berlins verstehen. Während in Kassel die Documenta11 lief, wurden hier die neuen Automodelle von VW präsentiert, inclusive VIP-Dinners mit Blick auf die neue Skyline am Potsdamer Platz. Das Argument, man müsse mit solchen events Geld verdienen (Stichwort Sponsoring/Private-Public-Partnership), um es für die eigentlichen hauseigenen Veranstaltungen zu verwenden, kann nicht mehr gelten, denn dieser Warenaustausch hat bisher noch nicht stattgefunden. Hauseigene Ausstellungen zur zeitgenössischen Kunst finden hier nicht statt. Brauchen wir also noch ein Museum, um Maßstäbe vor Augen zu führen, um Ansprüche an Kunst zu vergegenwärtigen? Im Prinzip ja, aber für wen? Ist das Museum mit seinen öffentlich akkreditierten Kustoden nur noch veröffentlichtes Zwischenlager für den privaten Kunsthandel von Sammlern und das Museum dazu da, die Wertsteigerung für die kommenden Auktionen zu garantieren? Es scheint jedenfalls in Berlin so zu sein.
Und schließlich ist diese Privatisierung sogar auf die öffentlichen Plätze der Stadtgeschichte ausgedehnt: Umgeben von der Staatsoper Unter den Linden, der Hedwigskathedrale und Einrichtungen der Humboldt-Universität wartet der Bebel-Platz im Herzen Berlins auf seine Transplantation, genauer gesagt, hier soll ein Bauwerk implantiert werden, das angeblich unsichtbar bleibt: eine Tiefgarage. Die Nutzung und Genehmigung dafür ist rechtskräftig, die Einsicht und Absicht, es doch noch zu verhindern, nicht. In der Mitte des Bebel-Platzes befindet sich eines der anspruchsvollsten und für viele ansprechendsten Mahnmale der ganzen Welt. Es handelt sich um einen unterirdischen Raum, der an die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 in Gestalt einer leeren Bibliothek erinnert. Das Mahnmal, das von von Micha Ullman aus Tel Aviv 1994 für diesen authentischen Ort geschaffen wurde, soll nach den Vorstellungen eines ehrgeizigen Investors und dem Willen der ohnmächtigen Stadtverwaltung zum blinden Block innerhalb einer unterirdischen Parkanlage werden. Ullmans Kunstwerk war der einmalige Idealfall eines durch Ausschreibung, Juryverfahren und Wettbewerb im demokratischen Instanzenweg legitimierten Denkmals, auf das alle stolz waren, mehr noch, das aufgrund der Eigendynamik seiner Akzeptanz diese Anerkennung täglich mehrt. Nun hat ein heimlich abgefasster Vertrag zwischen der Senatsverwaltung und einem Investor, dessen Legitimation fraglich erscheint, die historische Mitte Berlins verkauft, genauer gesagt, "verleast" auf der Basis eines Erbbaurechtsvertrags. Die Stadtbaugeschichte Berlins von nahezu 300 Jahren wurde verhökert. Das oberflächlichste der befürwortenden Argumente ist, dass man doch nach dem Bau der Tiefgarage nichts von ihr sähe. Diesen Befürwortern der Tiefgarage sei geraten, nach Köln zu fahren und sich den soeben fertiggestellten Neumarkt anzuschauen. Lüftungsschächte und Aufzugsanlagen bestimmen den Platz. Wie soll eine Lösung in Berlin bei weniger räumlichen Möglichkeiten als in Köln gelingen? Durch die Krypta der Hedwigskirche als Zufahrtsbereich?
Es gehört zu dem bereits abgetragenen Teil einer vorangeschrittenen Erosion, dass die konzeptionellen Ansprüche des Künstlers, hier einen ober- wie unterirdisch intendierten Ort der Stille zu schaffen, gar nicht mehr akzeptiert und respektiert werden. Die rationalen Argumente sind nur noch auf Abfindungssummen für den Ausstieg aus dem Vertrag und Versicherungsklauseln für Senkungsschäden reduziert. Dazu zählt auch der Zynismus, dass sich auf dem Rechtsweg die künstlerischen Autorenrechte nur noch dergestalt erstreiten lassen, dass der vom Bildhauer akzeptierte Abriss als Ergebnis erscheint. Das wäre für alle das Einfachste. Die Tatsache, dass die geschichtliche Entwicklung des Platzes und die Geschichte des Mahnmals nicht zu beziffern sind, schließt diese Argumente aus. Der Protest einer Mehrheit und der Einwand einer als elitär diffamierten Kunstkennerschaft wird dem ausschließenden Imperativ der Rechtslage und der nicht vorhandenen finanziellen Abfindung unterworfen. Denn alle Beteiligten tun nur ihre Pflicht oder opfern sich der daraus erwachsenden Ohnmacht.
Und plötzlich fühlen sich Politiker nicht mehr zuständig, die Stadtpolitiker sind an den Vertrag gebunden, die Bundespolitiker haben mit dem Holocaust-Denkmal genug zu tun. Und schließlich ist das ja alles nicht mehr die Sache einer öffentlichen Anteilnahme, sondern nur noch der fehlgeschlagene, leider öffentlich gewordene Plan einer klammheimlichen Privatisierung. Sie schreitet so sehr voran, dass man sogar den Anspruch verliert, sie noch zu diskutieren. Was regen Sie sich eigentlich auf? Wenn die Nationalgalerie als öffentliches Museum den Anspruch verliert, Maßstäbe künstlerischer Arbeit zu setzen, na und? Wenn Herr Chamberlain sich dekorieren lässt, so what? Wenn eine Abteilung der Stadtverwaltung ihre Mitte verkauft, samt der Geschichte darin, was soll´s, Berlin braucht Geld. Und wenn Politiker diese Angelegenheiten zudem als nicht von öffentlichem Interesse deklarieren, dann ist ja wohl schon die Politik privatisiert. Kunst hat die Funktion, Gemeinschaft zu stiften, und sie ist nur Kunst als öffentliches Gemeingut. Privatisiert reduziert sie sich auf hohe Salonkultur. Die Maßstäbe für anspruchsvolle Kultur finden derzeit scheinbar nur noch im Privaten statt. Aber hier ist sie keine Kunst mehr.
Friedrich Meschede ist freier Kurator und Referent für bildende Kunst beim Berliner Künstlerprogramm des DAAD.
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