Mir ist ein guter Freund gestorben. Auf 35 Jahre intensiver Gespräche, gemeinsamer Vorhaben, fröhlichen Feierns, geteilter Sorgen und geteilter Hoffnungen blicke ich zurück.
Woher er stets seine Kraft bezogen hat, ist mir ein Rätsel geblieben; wie tapfer er acht Jahre lang dem Krebs trotzte, wie gefasst er auf sein Lebensende zuging, wie sehr es ihn bis zuletzt ums Ganze ging, um unser Land, um unsere Kirche, um seine Familie. Das hatte er lebenslang miteinander gut zu verbinden vermocht und sein Leben als eine täglich erfahrene Gnade angenommen. "Eine Welt ohne Gnade ist eine gnadenlose Welt. Und eine gnadenlose Welt kann keine menschengerechte, keine menschenfreundliche Welt sein."
Er konnte in allen seinen Ämtern derselbe bleiben. Sich selber, seinen Überzeugungen wie auch seinen Freunden treu. Er selber hat erzählt wie er in seinem Leben Schwierigkeiten nicht ausgewichen ist, sie nicht beklagt, hat ihnen auch nicht protestantisch trotzte, sondern so beharrlich wie geschickt Lösungswege suchte - so intelligent wie möglich, so anpassungsbereit wie nötig. Er guckte immer über den Tellerrand seiner Tagesaufgaben hinaus. Er machte sich mitten im Tagesgeschäft Gedanken und brachte sie selber zu Papier.
Er analysierte die Gnadenlosigkeit des politischen Geschäfts und verwies auf die heilende Kraft wahrhaftiger Erinnerung. Das christliche Wort "Nachfolge" suchte er im politischen Raum zu buchstabieren. Gekommen aus der Zeit einer wohlmeinenden Diktatur, die er gemeinsam mit anderen glücklich überwinden konnte. Er sah uns hinüberrutschen in eine Welt der Beliebigkeiten einerseits und der neuen Frontenbildungen andererseits.
Nach leidvoller Erfahrung mit der Diktatur des "richtigen Denkens" wollte er die Gesellschaft nicht erneut in die Fallen des politischen Manichäismus mit seinen Feindbildern tappen lassen. Nicht zuletzt von daher rührte seine Offenheit gegenüber der PDS in Magdeburg, die durch Menschen repräsentiert wurde, mit denen er sich bei gegenseitig gesicherter Beachtung der Spielregeln der Demokratie eine Zusammenarbeit vorstellen konnte. Er nahm dafür scharfen Gegenwind von Freund und Feind hin. Er wollte echte politische Partizipation, die die Mündigkeit des Bürgers in Anspruch nimmt. Das war ja unser gemeinsamer Traum vor 1989 gewesen und wir haben das politische Wunder erleben dürfen, daß wir "aus eigener Kraft unsere Demokratie aufbauen" konnten. Dieser Traum währte allerdings nur wenige Monate. Nicht zuletzt weil ihm folgenloses Jammern von außen immer fern lag, begab er sich in das politische Alltagsgeschäft. Und er hat bei der Leitung der Volkskammersitzungen als Vizepräsident Unglaubliches geleistet. Ihm ist es zu verdanken, daß diese nicht in Chaos endeten.
Sein Blick zurück war kein Blick zurück im Zorn. Zugleich blieb er fern jeglicher Verklärung. Es machte ihn traurig wenn Menschen von vierzig verlorenen Jahren redeten und wagte zu sagen: "Für mich war es ein erfülltes und glückliches Leben... die DDR war mein Lebensraum, den es zu gestalten galt... Wir haben Verantwortung übernommen und Fehler gemacht. Wir waren frei, Ja oder Nein zu sagen. Wir hatten sinnvolle Ziele und weitergehende Hoffnungen. Ich bin dankbar für dieses Leben."
Aber er verschweigt und übersieht nicht, daß Menschen in den Zellen dieses "verwirklichten Traumes der Arbeiterklasse" verbringen mussten, solche Sätze über sich und ihr Leben nicht zu sagen vermögen.
Ich selber habe Reinhard Höppner als Präses unserer Magdeburger Synode (1980 bis 1994) erlebt und mit ihm und durch ihn Demokratie gelernt. Zusammen mit seiner Frau Renate hat er und haben wir seit 1983 gemeinsam den basisdemokratisch organisierten Meinungsbildungsprozess für die "Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" aktiv begleitet und je auf unsere Weise vorangebracht.
Er bewährte in all seinen Funktionen den Mut, rechtzeitig das Fällige ohne Rücksicht auf momentane Mehrheitsstimmungen oder den publizistischen Mainstream zu sagen. Dieser Mut hat ihn nie verlassen. Dieser gelassen wirkende Pfeifenraucher hatte eine erstaunliche Kraft und Zähigkeit und wollte nichts mehr, als sich treu bleiben.
"In der Politik lautet die Frage oft nicht, ob ich mich morgens noch im Spiegel ansehen kann, sondern was am nächsten Tag in der Zeitung steht." Aber was da in der Volksstimme täglich gegen ihn zu lesen war, hätte einen Wettstreit um höchste Gemeinheit in der deutschen Zeitungslandschaft klar gewinnen können.
So richtig massenbeliebt konnte er nie werden. Das lag auch daran, daß sich seine Rhetorik dem Argumentativen anvertraute, sich dem Suggestiven entzog, Polarisierung und persönliche Polemik vermied. Mit seinem sachbezogenen Abwägen nahm er sich selbst manche Wirkung. Er stand auf dem Treppchen der Popularitätsforscher selten weiter oben. Und mit seiner vom Alltagsgeschäft ins Grundsätzliche führenden Denkweise erreichte er selten "landesväterlich" die Herzen.
Er machte bei allem nicht viel von sich her und fiel manchmal gar nicht auf. Fürs politisch-parteiliche Alltagsgeschäft mit Hinterzimmerabsprachen, Connections und Personalschachereien war er einfach zu offen und zu fair. Da konnte schon mal in einer publizistischen Kampagne sein eigener Innenminister gegen ihn in Stellung gebracht werden. Dieser ließ dies geradezu genüsslich zu. Er musste zur Genüge erleben, daß halt auch manche tiefen menschlichen Enttäuschungen zur Politik gehören.
Höppner wollte immer nach vorn schauen, ohne das, was wir hinter uns haben, auf den Schrott zu werfen. Er wollte die vierzig zurückliegenden Jahre auch als ein Lernerbe für die Zeit heute, so kritisch wie selbstkritisch, aufsammeln. Er bestand nach vierzig Jahren DDR auf ehrlicher Erinnerung und ehrlichem Umgang miteinander.
Wir sollten unser ganzes Leben nicht "durch den Zerrspiegel von Stasiakten" sehen, und sollten statt der voreiligen Suche nach Schuldigen nach Wahrheit suchen. Und die ist komplex. Diese Erkenntnis erlaubte ihm allerdings keine Verwischung, keine Verniedlichung, keine Selbstsalvierung. Aber er dachte sich den Umgang mit Vergangenheit nicht als ein Tribunal, in dem ein ambivalentes Leben auf den Leisten von Ja/Nein, schuldig/unschuldig geschlagen würde.
Ein eigens eingerichteter unabhängiger Vertrauensrat klärte strittige "Fälle" von IM-Mitarbeit, weil ihm das bloße Kürzel IM zur Beurteilung eines Menschen und dessen, was er getan hatte, nicht ausreichte.
Reinhard Höppner war ein Dafür- und kein Dagegenmensch. Er verband Augenmaß mit Utopie, Kompromissbereitschaft mit Richtungstreue. Er war ehrlich gegenüber sich selbst und solche Ehrlichkeit auch über eigene Fehlentscheidungen oder Fehlurteile sah er als eine Voraussetzung für die Kritik an anderen.
Landesväterliche Erwartungen konnte er so recht nicht befriedigen. Er vermied alle starren Hierarchien der Macht, aber er hielt viel von den Hierarchien der Kompetenz. Unter der Last vieler Aufgaben ging er etwas gebückt, dieser so Aufrichtige.
Dieser geradlinige Mensch, dieses politische Talent, dieser Segler gegen den Wind ist uns gestorben und hinterlässt so etwas wie eine Vermächtnisbitte: "Die Richtung beibehalten, den Druck aushalten."
Das ist Lebenskunst. Zusammen mit seiner Frau Renate hat er sie bis zuletzt geübt.
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