Erinnern und Vergessen

Altes Übel - neues Spiel Der lange Schatten der DDR und die Vergangenheitspolitik

Eine zweiteilige Horrorklamotte Die Frau vom Checkpoint Charlie - mit geradezu demagogischen Rührseligkeitsingredienzien garniert - lief über das menschenverachtende DDR-System mit der Absicht nachholender Drachentöterei am 30. September und 1. Oktober im ARD-Programm zu bester Sendezeit. Dazu gab es eine nachträgliche Dokumentation, die manches in rechte Licht rückte, zwischendrin eine insgesamt missglückte Anne-Will-Talkshow unter dem Titel Der lange Schatten der DDR - Unrecht vergeht nicht.

Weit davon entfernt, nach eigener, drei Jahrzehnte bewusst erlebter DDR-Erfahrung dieses Gesellschaftssystem irgendwie schönzureden, bin ich doch frei davon, dieses Land zu dämonisieren, auf dass es als eines der furchtbarsten Systeme der Weltgeschichte erscheint.

Die DDR - ein Schreckensstaat?

Das Unrecht in Diktaturen lässt sich im Blick auf einzelne Opfer schwer vergleichen oder gar mit Opferzahlen aufrechnen. Freilich sollten schon die Relationen gewahrt werden, wenn man ein politisches System beurteilt, so schwer das auch dem Einzelnen, der darin gelitten hat, verständlich zu machen ist. (Was aber empfindet ein Auschwitz-Überlebender, wenn er von der DDR als "zweiter deutscher Diktatur" hört?)

Ich bin weit davon entfernt zu relativieren oder zu leugnen, was die Sicherheitsorgane der DDR - zumal in ihren berüchtigten Haftanstalten wie im Zuchthaus Bautzen oder in Hoheneck - an menschenverachtenden und menschenzersetzenden Praktiken gepflegt haben. Ich bin frei davon, die abschreckende politische Strafjustiz in irgendeiner Weise zu rechtfertigen, frei davon, die ideologische Anmaßung der SED klein zu reden - und doch war all das nicht für das ganze Leben in der DDR bestimmend. Es gab eben wahres Leben im so genannten falschen System - aufrechtes Leben inmitten gebückter Gehorsamkeit.

Wer wusste, was ihm bei jeglicher Dissidenz drohen konnte, musste seine eigene Kraft taxieren und sich fragen, wie er als Widerständiger oder Ausreiser mit Fluchtversuch durchhalten würde, sollten die Sicherheitsorgane zuschlagen. Von ihrer politischen Strafjustiz her war die DDR ein Unrechtsstaat - doch im Zivilrechtlichen durchaus an überkommene bürgerliche Normen gebunden.

Fiktion und Wirklichkeit: Im November 1988 bedankten sich Frau Gallus und ihre beiden Töchter - der Fall diente als Vorlage für den erwähnten Film - bei Rechtsanwalt Wolfgang Vogel mit einem persönlichen Brief aus München. Bei der ARD erscheint Vogel als abgefeimter Büttel des Stasistaates, denn dieser Film erfüllt alle Regeln von Demagogie und nachholender Verhetzung, auch wenn er aufgreift, welchen Repressionen einzelne Ausreiser ausgesetzt waren.

Es gab viel Schreckliches, was im Namen großer Ideen angerichtet wurde. Die Dirigentin des Arbeiter- und Mauernstaates war dabei nicht bloß die Überzeugung, die man "Bewusstsein" nannte, sondern die von oben bis unten reichende Angst, die Bewachte und Bewacher in vergleichbarer Weise erfasste. Dennoch war die DDR kein Schreckensstaat; innerhalb des ummauerten Gemeinwesens gab es mehr Auslauf als die meisten wahrnahmen. Der deutsche Duckmäuser war diesmal einfach rot, nachdem er schwarz und braun gewesen war.

Doch: Wer hätte tauschen wollen? Wer hätte als Demokrat in Pinochets Chile leben wollen, wo kritische Liedermacher nicht ausgebürgert, sondern mit zuvor gebrochenen Händen den Foltertod sterben mussten? Wer hätte als Schriftsteller tauschen wollen mit Julij Daniel, der noch zu Breschnews Zeiten in den GULAG kam, anstatt im Westen publizieren zu dürfen? Wer hätte tauschen wollen mit einem Kritiker des Schahs in Persien, einem Gegner der Diktatoren Franco oder Somoza oder einem Intellektuellen im Kambodscha Pol Pots?

Kein Zweifel, im Rückblick muss all das, was in der DDR entwürdigend und menschenverachtend war, auch benannt werden, aber nicht ohne die Existenzbedingungen eines durch den Zweiten Weltkrieg geteilten Deutschlands, ohne den großen Wettkampf der Systeme zu beachten. Nicht, ohne im Blick zu behalten, welche Faszination eine auf Gerechtigkeit und eine Welt ohne Ausbeutung bedachte sozialistische Idee auf die Bürger ausübte, die fest glaubten, mit Hilfe der sozialistischen Kaderpartei der großen Menschheitsidee einen gesellschaftlichen Leib geben zu können. Wer loyal war, meinte auch Härte zeigen zu müssen, weil eben eine Revolution nur so viel wert sei, wie sie sich zu verteidigen verstehe (Lenin).

Gewiss ist Erinnerung nötig; sie ist schließlich unser Reichtum und sorgt für unsere Unverwechselbarkeit. Wer allerdings bei negativen Erinnerungen verharrt, sich in ihnen verkrallt und sie hernach instrumentalisiert, um heutiges Tun und Lassen zu rechtfertigen, weiß nichts mehr von der erlösenden Kraft, die Erinnerung bewirken kann. Der bleibt fixiert auf Vergangenheit, gar neurotisch daran gebunden.

Der mit großer Werbung bedachte Sendekomplex der ARD war dazu angetan, Vergangenheit aufzurühren und das Menschenverachtende des DDR-Systems auf eine Weise ins Blickfeld zu rücken, dass eigentlich nur noch Abscheu übrigbleiben konnte. Ganz anders die Tragikkomödie Sehnsucht nach drüben vom 3. Oktober 2007, die mit Leichtigkeit - ohne Seichtheit - deutsch-deutsche Verhältnisse bis zum 9. November 1989 ins Spiel brachte.

In mir kam bei allem alles wieder hoch, was ich mit den so genannten Staatsorganen selber erlebt oder erfahren hatte. Was war das für ein Staat des prinzipiell Neuen, der mit höchsten humanistischen Ansprüchen auftrat und Menschen, die Freiheit wollten, so niedermachte?

Empört hat mich - in umgekehrter Weise -, wie das Drehbuch zum Film Die Frau vom Checkpoint Charlie alles Schreckliche aus der DDR (bis hin zu peinlichen Übertreibungen wie der fingierten Nachricht für die Kinder vom Unfalltod der Mutter) auf eine einzige Person hin zuschneidet, bis die DDR als ein einziges Land des Schreckens erscheint und der Eindruck entsteht, dies müsse wieder und wieder erinnert werden, um die DDR noch einmal und noch einmal töten, delegitimieren und zugleich vor der heutigen politischen Linken warnen zu können, die sich angeblich von diesen Praktiken nicht oder nicht genug abgesetzt hat.

Wenn man schon die ganze Unrechtsgeschichte gegen die Ausreiser in eine einzige Familiengeschichte hineinwirft, hätte dies nicht ohne die komplizierte Rolle geschildert werden dürfen, die die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in der DDR und Anwalt Wolfgang Vogel durch ihre Hilfe für Einzelne gespielt haben. Es hätte zumindest anklingen müssen, wie impulsgebend für einen friedlichen Umbruch im gesamten Sowjetblock der KSZE-Prozess, die Schlussakte von Helsinki und die Entspannungspolitik überhaupt seit 1969 wirkten.

So aber wird erinnerte Vergangenheit unversehens zur Vergangenheitspolitik - der Kampf gegen eine überwundene Ideologie zur ideologisch getränkten Argumentation. Als ob nicht einzelne Individuen - wie die demokratische Gesellschaft insgesamt - gut daran täten, der Vergangenheit nicht zu erlauben, Gegenwart zu beherrschen und Zukunft zu blockieren.

Wie der DDR gerecht werden?

Ein Doppeltes ist nötig: Erinnern und In-Ruhe-lassen, Vergessen und Wach-Halten. Diesem Anspruch scheint die Literatur noch am besten gerecht zu werden, zu der Christa Wolf in ihrem Buch Lesen und Schreiben anmerkte: Prosa "baut tödliche Vereinfachungen ab", sie unterstütze das "Subjektwerden des Menschen", und sie "hält die Erinnerung an eine Zukunft in uns wach, von der wir uns bei Strafe unseres Untergangs nicht lossagen dürfen" (1968).

Ein Staat, der Stacheldraht und Mauerwerk braucht, um seine Bürger zu halten, ist auf Dauer weder lebensfähig noch lebenswürdig. Ein Land, das seine Bürger nicht freiwillig zum Verbleiben und Mitgestalten gewinnen kann, zerbricht an den eigenen Widersprüchen - zumal dann, wenn große humanistische Ziele auf der Fahne stehen und die Führung an Wirklichkeitsallergie leidet.

Ein Land, das eine wissenschaftliche Ideologie verordnet und den Zweifel daran kriminalisiert, kann die schöpferischen Kräfte, die in den Menschen stecken, nicht freisetzen, sondern diese nur zeitweise in Gläubigkeit an sich binden. Ein Staat, der die Gesellschaft zum Eigentum einer Partei macht, kann das menschliche Glück nur verordnen und den einzelnen Menschen nur als Teil der Masse des Kollektivs würdigen, also seiner Würde als Einzelnem berauben.

Ein Staat, der einen enormen Sicherheitsapparat braucht, aber zugleich vorgibt, sich eines objektiven Geschichtsverlaufs zum Sozialismus sicher zu sein, macht anpasslerische Schizophrenie zum Prinzip und betreibt eine Vormundschaft, die den Bürgern das Wagnis der Mündigkeit erspart.

Sozialistische Ideen haben, seit der Marxismus-Leninismus den emanzipatorischen Sozialismus ruiniert hat, auf absehbare Zeit keine Chance mehr, gesellschaftlich gestaltet zu werden. Ich halte diesen Sieg des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das alles und jedes durchdringt - und dies zu einem Zeitpunkt, da es eine sozialistische Alternative nicht mehr gibt - für verheerend.

Zu beobachten ist die einseitige Erregung nach rückwärts; die eifrigen Vergangenheitsaufarbeiter lassen eine Empörung über heutiges Unrecht weithin vermissen. Da ist viel Mut, geschlagene Schlachten noch einmal zu kämpfen, aber wenig Wachheit gegenüber den Drachen von heute.

Fünf grundsätzliche Voraussetzungen wären zu benennen, aus denen sich ein zutreffenderes Urteil über die DDR nachträglich bilden könnte:

Erstens, nach Zusammenbruch und Befreiung bot sich vielen in der sowjetischen Besatzungszone - später der DDR - die sozialistische Idee als durchaus faszinierende Alternative an. Große humanistische Werte leuchteten am Horizont der Geschichte. Man entwickelte ein geschlossenes, scheinbar in sich schlüssiges Gedankensystem, das Schwierigkeiten als zeitbedingte Widersprüche empfand. Aber was waren die gegen Arbeit, Gesundheit, Kultur, Bildung, Gleichberechtigung, Frieden, Völkerverständigung? Wer dem einmal - und sei es aus biographisch nachvollziehbaren Gründen - gefolgt war, dem fiel es schwer, sich wieder zu lösen.

Zweitens, die DDR ist nicht zu verstehen, ohne sie als Teil der Nachkriegsordnung, als Faustpfand der Sowjetunion und Teil der Systemkonfrontation zu verstehen. Die DDR war daher ein bedingt souveräner Staat.

Drittens, da die DDR nur als Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte begriffen werden kann, ist es nötig, dem geteilten Land eine ungeteilte Geschichte zu schreiben - stets die Wechselwirkungen berücksichtigend. Peter Bender hat dies bisher mit seinem Buch Deutschlands Wiederkehr. Eine ungeteilte Nachkriegesgeschichte 1945-1990 (2007) als Einziger getan. Man versteht das (anpasslerische) Verhalten von DDR-Bürgern nur richtig, wenn man davon ausgeht, dass keiner davon ausgehen konnte, dass die DDR bald untergehen oder die Sowjetunion je wieder die deutsche Einheit zulassen würde. (Nachhaltig wirkte dort der Schock des 22. Juni 1941.)

Viertens, wer heute über das Leben in der DDR urteilt, ohne die damaligen Umstände zu berücksichtigen, kommt zu falschen Schlüssen, zumal die DDR-Bürger seit 1961 eingemauert waren. Man mache sich etwa die Notlage eines 18-jährigen Grenzsoldaten klar, der sich für drei Jahre verpflichtet hat, um Medizin studieren zu können: Dessen Angst vor einem Flüchtling, obwohl er die Kalaschnikow - oder weil er die Kalaschnikow in der Hand und eine Vergatterung im Ohr hat.

Fünftens, beim Urteil über das Leben in der DDR wird eine Fokussierung auf die Staatssicherheit diesem Leben nicht gerecht. Selbstredend müssen deren Machenschaften zur Sprache kommen und Opfer entschädigt werden. Aber davon darf nicht vollends verdeckt werden, dass es in der DDR auch reiches, glückliches, authentisches und aufrechtes Leben gab.

Mit Erinnerungen leben

Jeder lebt mit Erinnerungen und auch von Erinnerungen, die stärken oder niederdrücken. Jedes Erinnern - durch Erzählen, Aufschreiben oder Dialog mit sich selbst (Nach-Denken!) - macht das Vergangene wieder ganz gegenwärtig, so dass Erinnern in einen inneren Erregungszustand versetzt, der erfreulich ist, bedrückend wirkt oder wütend macht - Euphorie, Depression oder Aggression auslöst.

Erinnern ist ebenso wie Vergessen etwas durchaus Ambivalentes. Es gibt das klärende, das bereichernde, das läuternde Erinnern - daneben das selbst zerstörerische und belastende, das in ein neurotisiertes Nicht-Vergessen-Wollen münden kann.

Wir können als Menschen nur leben, wenn wir Erinnern und Vergessen. Es gibt ein befreiendes Vergessen, so wie es ein feiges, verschleierndes und verlogenes Vergessen gibt. Vergessenkönnen kann für einen Menschen, der Schlimmes in seinem Leben durchmachen musste (ob durch Schicksalsschläge oder durch Verschulden anderer), eine Gnade sein. Ebenso kann Nicht-Vergessen-Wollen oder Nicht-Vergessen-Können dem Betroffenen zur täglich erneuerten Last geraten.

Erinnern und Vergessen kommen hilfreich zusammen, wo ein Mensch gegenüber einem anderen Vergeben lernt oder sich vergeben lässt. Damit wird Geschehenes nicht ungeschehen gemacht - aber es verliert seine Last und die daraus entspringende Sucht zu strafen.

Die Griechen sprachen von einer "Kunst des Vergessens", damit nicht jeder Tag zur dauernden Nacht wird oder altes Übel neues Übel gebiert. "Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend immer Böses muss gebären" (Schiller).

Wenn wir nicht vergessen könnten (wenigstens zeitweise Vergangenheitslasten und gestrige Schmerzen des Leibes und der Seele ausklammern), würden wir unseres Lebens - zum Beispiel nach dem Verlust eines lieben Menschen - nie mehr froh. Trotzdem bleibt der Verlust präsent. Der in unserem Leben Vermisste wird dadurch nicht ausgelöscht, dass er nicht täglich vor Augen steht.

Die heilsame Dimension des Vergessens kann man als Begraben des Bedrückenden verstehen - als ein Erinnern am Grabe alles dessen, was endlich "beerdigt" werden konnte und eben nicht wieder auferstehen soll, sondern zugeschüttet wird, im besten Sinne des Wortes "zugeschüttet" wird.

Solches Vergessen und Begraben des Vergangenen ist nicht nur eine psychologische, sondern auch eine politische Leistung, die einschließt, alles Menschenmögliche zu tun, dass nie wieder Verhältnisse entstehen, in denen Menschen entwürdigt leben müssen.

1938 hatte Brecht in seinem Gedicht An die Nachgeborenen formuliert:

"Auch der Hass gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für
Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein."

Wir könnten es.


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