Lotse des Rückzugs

Zeitgeschichte 1991 hat Gorbatschow als ihr letzter Präsident die Sowjetunion bestattet. Heute wird der 80. Geburtstag des einstigen Reformators gefeiert. Im Westen, nicht in Russland

Kaum oder schwer auszudenken, wo unsere Welt im Jahr 2011 ohne Gorbatschow stehen würde! Seit 1953/56/68 wussten wir, dass nur aus Moskau selbst Befreiung von sowjetischer Umklammerung kommen könne. Es erschien daher wie eine (Geistes-)Revolution, als der KPdSU-Generalsekretär am 3. Oktober 1985 (vier Jahre vor unserer friedlichen Oktoberrevolution und genau fünf Jahre vor der Einheitsfeier!) vor der französischen Nationalversammlung erklärte: „Bei allen Unterschieden in den politischen und philosophischen Anschauungen, in den Idealen und Werten müssen wir uns jedoch des einen bewusst sein: Wir alle sind Hüter des uns von den vorangegangenen Generationen überlieferten Feuers des Lebens. Die Sicherheit Europas kann nicht mit militärischen Mitteln und nicht mit militärischer Stärke gewährleistet werden. Das ist eine völlig neue Situation, die einen Bruch mit den Traditionen, der Denkweise und den Verhaltensmustern bedeutet, die sich über Jahrhunderte, ja über Jahrtausende herausgebildet haben. Der menschliche Geist passt sich an Neues nicht sofort an … Ohne die Vereinigung der Anstrengungen aller europäischen Länder wird es nicht gelingen, auch ein so brennendes Problem wie die Erhaltung und Gesundung der Umwelt auf unserem Kontinent wirklich zu lösen. In vielen ihrer Regionen beginnt die Erde, bildlich gesprochen, uns unter den Füßen zu brennen, vom Himmel fällt, wenn nicht Feuerregen, so doch saurer Regen, und der Himmel selbst ist vor Rauch nicht zu sehen ... Offenbar haben wir seinerzeit nicht weitsichtig genug gehandelt, als wir solche Probleme schufen, die jetzt im nationalen Rahmen schon nicht mehr zu lösen sind.“

Verzicht auf Feindbilder

Es waren die Worte Dialog, Vernunft und Verständigung, die dank Gorbatschow aus der Ost-West-Rhetorik der späten achtziger Jahre nicht mehr wegzudenken waren. Die Abrüstung stand nach gigantischer Aufrüstungsspirale ganz oben auf der Agenda. Gorbatschow – damals noch von Kanzler Kohl mit Joseph Goebbels verglichen – wurde für den Osten zu einem Hoffnungsträger für endlich mögliche politische Freiheit und Transparenz (Glasnost) sowie gesellschaftlichen Umbau (Perestroika). Er warb – zunächst als Generalsekretär der KPdSU, später als Präsident der UdSSR – für ein Neues Denken angesichts enormer atomarer Vernichtungskapazitäten. Wir lasen seinerzeit alle Reden Gorbatschows wie Offenbarungseide eines Voluntaristen, der auf die Veränderungskraft befreiender Gedanken vertraute.

Stets bangten wir, dass ihn seine Gegner im Politbüro stürzen könnten, dass Restauration die Perestroika abwiegeln würde, und waren um sein Leben besorgt wie heute um das Barack Obamas. Endlich einer, der selber dachte, gut argumentieren und kommunizieren konnte, zu begreifen schien, was die Stunde – weltweit! – geschlagen hatte, der den Abbau von Massenvernichtungswaffen mit einem Verzicht auf Feindbilder verband.

Gorbatschow rief die Denker der Welt in Moskau zusammen (gemeint ist das Issyk-Kul-Forum mit dem Schriftsteller Tschingis Aitmatow), um Menschen und nicht Ideologie in den Mittelpunkt zu stellen, „damit Selbstwertgefühl und Würde wie der Lebensstandard sich stetig verbessern“. Warum aber blieb es ihm verwehrt, sich ein Bild vom realen Zustand der Sowjetwirtschaft zu verschaffen? Als ob politische Reformen wie selbstverständlich einen Aufschwung nach sich zögen. Heute weiß man, Gorbatschow verfügte über keine schlüssige ökonomische Konzeption. Auch fragt man sich, warum er 1987 zum Jubiläum der Oktoberrevolution brodelnde Nationalitätenkonflikte leninistisch verklärte. Weshalb er noch 1988 an der führenden Rolle der Partei nicht rütteln ließ. Warum er 1988 bei einem Besuch in Prag kein Wort über den Prager Frühling verlor.

Gorbatschow wurde zerrieben zwischen unberechenbaren Radikalreformern und mächtigen Bremsern, war angeschlagen durch die Reaktor-Katastrophe von 1986 in Tschernobyl, in Bedrängnis gebracht durch die Übergriffe von Spezialkräften des Innenministeriums (Omon-Einheiten) Ende der achtziger Jahre im Baltikum, geschwächt durch leere Regale und fehlenden Wohnraum. Seine Revolution von oben fand nicht das Volk da unten. Bestenfalls einen Teil davon.

Unvergessen: Jelzins Demütigung

Die Deutschen waren es schließlich, die von Gorbatschow mehr profitierten als irgendwer sonst. Er ließ die anmaßende DDR-Staatspartei fallen und wollte 1990 einer deutschen Wiedervereinigung in einem geeinten Europa keine unüberwindbarem Hürden in den Weg stellen. Die SED-Führung wusste sehr wohl, dass ihr Kartenhaus der Ideologie und eine dadurch legitimierte Macht zusammenfallen würden, wenn die Sowjetunion den zweiten deutschen Staat sich selbst überließ und kein Bruderbund mehr Hilfe versprach.

Unser Wittenberger Kreis hatte Gorbatschow als Ausdruck von „Volksdiplomatie“ am 1. Oktober 1989 einen Begrüßungsbrief geschrieben, um ihm persönlich weiterhin Mut, „nüchterne Besonnenheit für das Mögliche und Festhalten an der Hoffnung auf einen menschlichen Sozialismus“ in einem Europäischen Haus zu wünschen.

Aber mit dem Verlust – oder sollte man besser sagen „Verkauf“ – der DDR war auch der Sowjetblock erledigt. Gorbatschow stand danach bei seinen Landsleuten im Geruch, mit einem so kaum erwarteten historischen Rückzug den Sieg der Roten Armee im Großen Vaterländischen Krieg verraten zu haben. Für mich ist es bis heute unvergessen, wie ihn Boris Jelzin demütigte, als er nach dem gescheiterten August-Putsch von 1991 vor aller Welt und im Beisein des Generalsekretärs der KPdSU ein Dekret über das Verbot der KPdSU in Russland unterzeichnete.

Gorbatschow blieb danach nicht mehr viel zu tun, als am 26. Dezember 1991 die Totenrede auf die sich selbst aufgebende Sowjetunion zu halten. Er wollte gewiss kein Totengräber sein, war aber zuletzt nicht viel mehr als der Bestatter einer Groß- und Weltmacht. Der Westen hielt sich um diese Zeit längst an Boris Jelzin – Gorbatschow, inzwischen Friedensnobelpreisträger, hatte seine Schuldigkeit getan, war als Denkmal gefragt, doch als Politiker erledigt. Nach 1991 wurde es in Russland einsam um den Hoffnungsträger und Erneuerer von einst.

Verlierer des Kalten Krieges

Als Gorbatschow 1996 das erste und einzige Mal nach dem Abschied der Sowjetunion zu einer Präsidentenwahl antrat, hielt ihn gerade ein Prozent der Wahlberechtigten für erwünscht und geeignet, die Russische Föderation durch schwierige Zeiten zu führen. Offenbar lasteten ihm viele seiner Landsleute an, dass Russland zur Regionalmacht degradiert war und jahrzehntelang ertragen musste, von den USA, der NATO, dem Westen überhaupt, als Verlierer des Kalten Krieges behandelt zu werden. Es lag in Gorbatschows Verantwortung, dass sich eine hochgerüstete Hegemonialmacht friedlich, ohne großen Knall, von ihren Interessen und Ansprüchen verabschiedete – es lag in der Verantwortung seiner Partner im Westen, dass an Gorbatschow so oft gerühmte Neue Denken für sich selbst nicht gelten zu lassen.

Einige seiner großen Reden wieder lesend, stelle ich fest: Was der Staatsmann Gorbatschow zusammen mit vielen Intellektuellen und Schriftstellern in die Welt gebracht hat, ist nicht abgegolten. Marx aufnehmend, verwies er darauf, dass sich Quellen des Reichtums wie durch einen seltsamen Zauberbann in Quellen der Not verwandeln können. In einem friedlichen Wettbewerb – schrieb er – sollte es darum gehen, „würdige, wirklich menschliche materielle und geistige Lebensbedingungen für alle Völker“ zu schaffen, die Bewohnbarkeit unseres Planeten zu sichern und mit seinen Reichtümern hauszuhalten. Es bleibe „ein langer und schwieriger Weg“, jahrzehntelang angehäuften gegenseitigen Argwohn, Misstrauen und Vorurteile abzubauen. Es gebe keinen anderen Weg, wenn wir überleben wollten.

Friedrich Schorlemmer ist Theologe, Schriftsteller und Herausgeber des Freitag

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