Über vielem liegt Schweigen

Zum Tod von Markus Wolf Ein Versuch, ihm gerecht zu werden

Er konnte erst sein, was er wohl eigentlich sein wollte, als er seinen Dienst bei der DDR-Staatsicherheit quittiert hatte. Ich sah ihn das erste Mal Anfang 1989 im Berliner Haus der Sowjetischen Kultur und Wissenschaft während einer geschlossenen Veranstaltung, die der "Öffnung" im Sinne Gorbatschows dienen sollte. Als den Verfasser des Buches Die Troika fragte ich ihn damals öffentlich, wie man menschlich in der Stasi überleben, sich ein freundliches Gesicht und eine kultivierte Sprache erhalten könne. Ich war einfach überrascht, welches Bild ich von ihm hatte und welchen Menschen ich nun erlebte. Keine Antwort. Er spürte ja, dass ich etwas vom Un-Wesen der Staatssicherheit hatte wissen wollen.

Und so stand er - bis an sein Lebensende - loyal zu seinen ehemaligen Genossen Spionen, wenngleich man seine prinzipielle Haltung der Rede auf dem Berliner Alexanderplatz an jenem denkwürdigen 4. November 1989 entnehmen konnte. Von lauten Pfiffen begleitet, verbeugte er sich vor dem Volk, bescheinigte der SED-Führung, in einer Scheinwelt zu leben, und anerkannte den Mut, mit dem sich das Volk "auf den Straßen und Plätzen die Freiheit des Wortes selbst geholt" hatte. Er lobte, wie besonnen und friedlich sich alles vollzog, und forderte Rechtsstaatlichkeit, sollte die Tätigkeit der Sicherheitsorgane untersucht werden - er warnte, die Stasi generell zu "Prügelknaben der Nation" machen zu wollen. Was aber hieß es, wenn er beteuerte: "Ich bekenne mich zu meiner Verantwortung für diese (33-jährige - F.S.) Tätigkeit"? Dass man die im Wesentlichen strafrechtlich abarbeitete, und die Stasi-Fixierung bei der Betrachtung unserer jüngsten Geschichte bis heute anhält, mag zu seinem Schweigen beigetragen haben.

Der viel dekorierte Generaloberst "an der unsichtbaren Front", bis 1986 im Verborgenen arbeitend, hatte einen scheinbar angeborenen Hang zur Inszenierung, zeigte sich charmant, wortgewandt, differenzierungsfähig und konziliant, wurde aber eisig einsilbig, sobald es um seine Jahre an der Seite des grobschlächtig kaltblütigen Erich Mielke ging. Finsteres Handwerk in finsteren Zeiten, wo es galt, einen ummauerten Staat zu stabilisieren, nach innen "feindfest" zu machen, zugleich den äußeren Feind zu irritieren, auszukundschaften und zu beeinflussen. Er meinte wohl, die feine Klinge auf dem internationalen Parkett des Klassenkampfes mit hoher Professionalität geführt, die Fäden im Labyrinth des Verrats mit 4.000 Zuträgern stets in der Hand behalten zu haben. Geschichte schreiben mit gekauften Abgeordneten. Wartegeld für Spione auszahlen und darüber den Mann stürzen, den man meinte, politisch brauchen zu können.

"Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens mit einer Richtstatt konfrontiert." Den hintergründigen Satz Tschingis Aitmatows zitierte Markus Wolf oft und gern. Und er verstand es, die Aura des einst Hohen Geheimen für seine Karriere als Schriftsteller zu nutzen. Er legte sich beim Film über seinen Vater 1989 erfolgreich mit der DDR-Zensur an und sein Buch Die Troika wurde zum Ost-Seller. Bückware.

Wer Markus Wolf verstehen will, sollte immer vom Jahr 1933 aus denken

Seit 1986 (zumal nach einem Beitrag im Spiegel 1/89) galt er neben Hans Modrow als Hoffnungsträger einer Perestroika in der DDR, als einer der wenigen intellektuell anspruchsvolleren Figuren aus der Führungsriege der SED. Dass er nach 1990 nicht beziehungsweise zu einer Strafe verurteilt wurde, deren Vollstreckung ausgesetzt blieb, halte ich für einen - so fragwürdig das aus der Sicht von Opfern auch sein mag - Sieg des Rechtsstaates über den Versuch, Recht politisch zu instrumentalisieren.

Markus Wolf hat wenig Auskunft über das Innenleben der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) gegeben und damit kaum zur Aufklärung beigetragen. Er hat nachträglich niemanden verraten, hat sich nicht vom einstigen Feind kaufen lassen, Aussagen verweigert und Beugehaft in Kauf genommen. Selbst seine autobiografischen Schriften umschiffen das Dunkle der 33 Jahre bei der HVA; sie zeigten - gut geschrieben - die andere, die helle Seite des "Mischa" Wolf. Offenbar wirkte bei ihm wie bei seinem Bruder Konrad das Erbe des Vaters lebenslang: politisch aktiv bleiben und künstlerisch tätig werden. Sein Verlag überschreibt die Todesanzeige mit dem Satz: "Er war ein Aufklärer". Eben das war er bis 1986 im Sinne geheimer Dienste. Aber es gibt wohl kaum noch ein Wort, das nicht missbraucht worden wäre.

Wer Markus Wolf verstehen will, sollte immer vom Jahr 1933 aus denken - gerade, wenn man die von ihm daraus gezogenen Konsequenzen nicht teilt. Mit ihm ist ein Opfer, ein Zeuge, ein Akteur des vergangenen Jahrhunderts und eines an sich selbst gescheiterten Sozialismus gestorben. Im Übrigen gilt Aitmatow.


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