Nirgendwann war Theater so direkt im Leben wie in jenen Monaten. Nirgendwann war auch Kirche so dicht am Leben. Es ging nicht mehr nur darum, seine Rolle gut zu spielen, sondern aus seinen Rollen herauszutreten, um endlich auch eine Rolle zu spielen. Nirgendwann waren sich Theater und Kirche so nahe wie in jenen Novembertagen des Jahres ´89: Die Metaebene der Kunst und des Kults, des Rezitierens und des Ritualisierens suchte die Alltagsebene.
"Eingreifendes Denken" hatte Brecht das genannt. Es fand seinen Ausdruck in Berlin und in der vom arroganten Berlin so genannten Provinz, die allerdings viel früher aufgewacht war. Schön war diese Feierabendrevolution 1989 in der DDR, wenn es denn "schön ist, dass man Schwierigkeiten löst". Theater - sonst eher symbolischer Ort von Freiheit und Freiheitskampf - wurde zum Spielort für die Freiheit von Schauspielern und allen anderen, die als mündige Bürger fortan mitspielen wollten, statt resigniert festzustellen: "Das Spiel ist aus" oder "Das Spiel ist zu schön, um wahr zu sein".
Das Publikum wollte mehr als nur Klatschen, es wollte sprechen - Mit-sprechen, der Vorstufe zur Mitsprache. Theatertexte fungierten als Sprecheröffnungen. Schauspieler sprachen ihre Texte nicht länger nur auf Bühnen, sondern auch von Tribünen. Das Volk hatte sich gegen die Anmaßungen der Politgerontokratie mit dem aufrührerisch-einfachen Satz "Wir sind das Volk" in Erinnerung gebracht - bevor es nur noch "ein Volk" sein wollte.
Ekkehard Schall sagte am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz in seiner - später wenig beachteten - Rede: "Nicht die vielen Protestschreiben, Beschwerden und Vorschläge haben etwas erreicht, sondern ausschließlich der Druck der Straße, der selbstverständlich verboten war, wie schon die Aktion der revolutionären Sozialdemokraten im vorigen Jahrhundert. Nur der Druck der Straße hat die verhärteten Strukturen der Partei- und Staatsführung aufgebrochen und den Anfang einer Veränderung möglich gemacht. Meinen Dank allen diesen mutigen und friedlichen - ich betone das - friedlichen Demonstranten in vielen Städten der DDR: ... sorgen wir dafür, dass die DDR ein wirkliches sozialistisches Gemeinwesen wird, was mehr ist als ein sozialistischer Staat."
Ein vom Theater kaum zu übertreffendes Theater samt allen schauspielerischen Verstellungskünsten (mit "Pfeffer und Salz") spielte Günter Schabowski*, das gewiefteste Groß-Chamäleon der Wendezeit, gegenüber dem man fortan die sozialistischen Idee verteidigen musste, an deren Zerrüttung er selbst eifrigst mitgewirkt hatte.
Heute wird ein derart öffentliches Theater nur noch geboten, wenn Markus Söder mit Lothar Bisky in einer Talkshow auftaucht. Söder, dem wohl bisher jede Probe im Leben erspart blieb, könnte problemlos als geldsparenden Nebenjob die Hauptrolle in einem der Shakespeareschen Königsdramen spielen. So viel Kalter Krieg, so viel Kommunistenphobie, vielleicht auch so viel (Stoibersche) Ostverachtung gab es selten in einem erloschenen Gesicht.
Als Braun, Schatrow, Heiner Müller die Perestroika vorwegnahmen
Theater im geteilten Deutschland, Theater in der Deutschen Demokratischen Republik - das war immer mehr als Theater. Es gab Bühnen noch und noch, fast in jeder mittelgroßen Stadt. Bühnen, die sich nicht aufs Seichte kaprizierten und selten den Erwartungen der Funktionäre folgten.
Berliner Theater zumal war Theater, das meinen westdeutschen Kommilitonen vorzuzeigen ich mich nie zu schämen brauchte. Was war denn in den sechziger Jahren mit Stolz in Ostberlin vorzeigbar, wenn man sich dort mit Studenten aus Göttingen und Frankfurt regelmäßig traf? Und wovon sprachen wir, wenn wir uns nach Jahren wieder trafen?
Theater war und blieb - gerade im geteilten Berlin - ein Ort des Be-denkens. Es beschrieb nicht nur menschliche Geschichte und menschliches Geschick, es schrieb auch Geschichte, schrieb sich ein in die Menschen, die im Theater vorgeführt bekamen, wie was warum wohin führte, welch tragische Verstickung zu ertragen war - welche Handlungsalternative es zu ergreifen galt.
Theater im Kalten Krieg wurde auch zum Theater gegen den Kalten Krieg. Und keinesfalls griff die Staatsmacht nur im Osten in ein Theater ein, das seinerseits in die Politik eingriff.
Die Auseinandersetzung mit den dunklen Schatten unserer Vergangenheit verband die Theater in Ost und West - von Brechts Arturo Ui über Hochhuths Stellvertreter bis zur Ermittlung von Peter Weiss und den Stücken George Taboris. Welche Trostlosigkeit und welche Hoffnungen, welche Langeweile und welche Träume zwischen Gorkis Kindern der Sonne und Gorkis Sommergästen - im Deutschen Theater hier und in der Schaubühne dort.
Die Farce der 13 einsamen Herren in der Farce von Leonce und Lena in der Volksbühne - so befreiendes Gelächter gab es selten. Ich mochte kaum glauben, dass ich im Mauerstaat überhaupt solches Theater sehen konnte. Brechts Lied von der Tünche, gesungen von Hilmar Thate - das war subversive Aufklärung, das war Lust des Hörens und mutmachender Impuls. Den Tränenpalast am Grenzübergang Friedrichstraße hatten wir vergessen, wenn wir in den Siebzigern Ost-West-gedankenverloren und gedankensuchend über Heiner Müllers Philoktet diskutierten. Ähnliches könnte ich mir bei der Inszenierung dieses Stückes in der Volksbühne 2005 nicht mehr vorstellen. Dazu taugte weder die Inszenierung, noch fände ich heute dafür das Gesprächsklima.
Verklärter Blick auf Vergangenes in der geteilten Welt, der geteilten Stadt, des geteilten Himmels? Ja, selige Zeiten, was das Theater betrifft. Und geteilte Geschichte als Theatergeschichte in einer geteilten Stadt, das war Wettstreit unter Funk- und Fernsehturm. Großes Theater auf billigen Plätzen in der DDR. Eine Gesprächseröffnung allzumal. Wie herrlich, dass Walter Ulbricht, der sich doch anschickte, mit dem Werktätigen den III. Teil von Goethes Faust zu schreiben, nicht erkannte, dass es sich beim Stück Der Drache von Jewgenij Schwarz nicht bloß um etwas Bildhaft-Märchenhaftes handelte.
Brecht, Müller, Matusche, Büchner, Lessing, Schiller, Sophokles, Aristophanes, Weiss, Rozewicz, Schatrow, Aitmatow, Bulgakow - was war das für ein Theater, das die Perestroika vorwegnahm! Oder Volker Braun, mit seinen beiden Stücken Großer Frieden und Lenins Tod am Berliner Ensemble, als die Zensur schon zahnlos geworden schien. In diesem Theater wurde einer gespaltenen Welt der Spiegel vorgehalten. Es ging stets um Konkretes - und um Größeres zugleich.
Hatte man in der Schule Brecht als einen Klassiker zu erledigen versucht oder gar auf die Gewehre der Frau Carrar reduzieren wollen, so zeigte sich, wie eingreifend Brechts Theater mit all seinen Agitationsanteilen sein konnte, ob im anrührenden Weltveränderungspathos der Mutter oder mit dem Paradigma von der Auslöschung des Individuums in Mann ist Mann. Oder im Subversiven der Mutter Courage.
Der gute Mensch von Sezuan sollte sich als Vorwegnahme eines Konflikts erweisen, vor dessen total globaler Verschärfung wir heute stehen. Man höre nur genau hin, wenn die Global Player für ihre unumstößlichen Weisheiten Reform- und Modernisierungsvokabeln finden, bei denen stets Menschen übrig bleiben, die keine Dividende mehr versprechen. Arme Shen Te.
Und schließlich 1989/90, die Synchronität von Heiner Müllers Hamlet/Hamletmaschine mit dem realen Geschichtsverlauf. Während der neun Stunden im Theater konnte draußen viel passiert sein.
Wie sehr tobte der Kampf um Deutungshoheit - wie man das heute nennt - zwischen Ost und West in der geteilten Stadt, wie sehr wurde bisweilen der Kampf gegen die ideologische Borniertheit durch das Theater im Osten geführt, während man im Westen noch in linken Visionen schwelgte, weil man den verwirklichten sozialistischen Menschheitstraum unter dem Dirigat der Partei der Arbeiterklasse nicht zu erleiden hatte, sondern in die Unschuld der Utopie fliehen konnte.
Wie viel Teilungsschutt blieb im vereinten Berlin zurück
Stunden über Stunden müsste man nacherzählen, was damals geschah, ohne ewig am Vergangenen (und seinen Akten) zu kleben und die Frage zu vergessen, was das Theater macht, wenn es "bloß" unter ökonomischen Zwängen steht und ansonsten machen kann, was es will - mit dem vorgegebenen Text, mit der Würde der Schauspieler, den Gefühlen von Zuschauern, die verstört mit ansehen müssen, welches Tabu ohne jeder Rücksicht noch zu brechen sein könnte, bis hin zur Innenweltverschmutzung "neuen Typus" beim Schoppen, Ficken und Kotzen. Gilt Artikel 1 GG auch fürs Theater? Gerade um seiner Freiheit willen?
Eines jedenfalls scheint unabweisbar: Wo Theater unter Druck steht, kann es sich in eigen-artiger Weise bewähren mit dem, was es will, kann, soll - mit all seinen künstlerischen und humanisierenden Ansprüchen, gegen alle politische Vereinnahmung. Denn Theater ist eine Grund-Schule der Demokratie, als Entdeckung von Politik, als Vor- und Darstellung von Handlungsmotiven, die Menschen bewegen können, sich keinem Geschick oder Schicksal zu unterwerfen - so, wie wir uns derzeit den vorgeblichen Eigengesetzlichkeiten einer neoliberalen Ideologie unterwerfen. Selbst das Theater ist davon betroffen und nicht fähig, diese Misere erhellend aufzugreifen.
Wie Theater ein Seismograph für das sein kann, was nach Ende des Kalten Krieges, nach dem Mauerfall im wiedervereinten Berlin an Teilungsschutt zurückgeblieben ist, hat mir die falsch etikettierende und unwürdige öffentliche Diskussion um die Nominierung Christoph Heins als Intendant des Deutschen Theaters gezeigt.
Natürlich musste das Theater nach dem Mauerdurchbruch seine Rolle in der vereinten Stadt erst wieder finden. Doch statt vordringlich zu fragen, was Theater jetzt - gerade jetzt - zu leisten habe, fragte man unentwegt, wie viel Theater man sich noch leisten könne. Auch wenn mancher Bürger, der mit jedem Euro rechnet, staunt, wie viel - aus öffentlichen Töpfen finanzierte - Intendanten sich in Berlin wert sind.
Die über zehn Jahre dauernde Emeritierung Bertolt Brechts, die Versuche nachträglicher Beschädigung künstlerischer und menschlicher Qualitäten wie bei Ruth Berghaus scheinen soweit gediehen, dass Brechts politisches Theater als Schule von Welt- und Selbsterkenntnis überhaupt emeritiert ist. Und erst bei seinem Tod fand man allgemein wieder zu einem gerechteren Urteil über die gewiss nicht unkomplizierte und nicht unumstrittene Künstlerpersönlichkeit Ekkehard Schalls.
Um auf den 4. November 1989 zurückzukommen mit jenem wunderbaren Banner, das damals von Schauspielern, Bühnenarbeitern und Regisseuren gehalten und getragen wurde. Voran getragen vor mehr als 500.000 Menschen, die etwas von der bis dato legendären "Weisheit des Volkes" demonstrierten, die sich ausgerechnet in der DDR zeigte. (Die BILD-Zeitung vermag heute solche politische Weisheit weit wirksamer zu zerstören, als das ND es je vermochte.)
Wie dramatisch schnell verlief sodann ökonomisch und politisch der Ausverkauf. Auch der 4. November wird zwischenzeitlich im Verlaufskalender der friedlichen Oktoberrevolution der DDR nur noch marginal erwähnt.
Ich habe erleben (und später erst reflektieren können), was bei dieser Demonstration passiert war - etwas, das sich ein Kanzelredner oder ein Theaterkünstler nur im Traum zu wünschen wagt: dass sich Menschen durch einen vorgetragenen Text, ein literarisches Stück, im Augenblick verwandeln, nicht manipulieren, sondern einfach überzeugen lassen. So geschehen an jenem 4. November 1989, als die Tribüne des Lastkraftwagens noch immer gut umstellt war von Sicherheitskräften, die sich in einer so zivilisierten wie grundsätzlichen Auseinandersetzung sahen und just da einen Erkenntnisruck vollziehen konnten. Sie waren plötzlich nicht mehr Bedienstete ihrer Partei, sondern auch Subjekte mit eigenem Kopf, mit eigenem Urteilsvermögen. Etwas im Kern Vergleichbares immer wieder zu provozieren, auf eine so unterhaltsame wie anrührende Weise - im Schillerschem Sinne - Menschen "spielend" zu verändern, gehört zu den unverzichtbaren Aufgaben des Theaters, erst recht in dieser geeinten, immer noch so geteilten Stadt Berlin.
Unser Theater sollte weiterhin der Rede wert bleiben.
(*) Damals Mitglied des SED-Politbüos
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