Der folgende Text erschien 1990 mit dem Titel Das letzte Heimatlied. Es werden darin Zeilen aus Liedern von Herbert Keller, Manfred Streubel, Reinhold Andert und Gerd Kern zitiert.
1 Das schnelle Verschwinden im Schatten des reichen Bruders eröffnet, zumal es so spurenlos geschehen muß, vielfältige Chancen, der Vergangenheit, der Helden-und Jammertaten des armen Bruders mit den großen Kinder- und kleinen Bonzenaugen in Gelassenheit zu gedenken; der Zukunft hingegen? Der Zukunft sehen wir entgegen mit dem bisher knappsten Stoff: Ungewißheit.
Hat er nicht, der Kleine, verschwindende Bruder, Heimatlieder ersonnen und gesungen, was, wie man weiß, vornehmlich jener unternimmt, der sich des Besitzes einer Heimat unsicher ist, dem nämlich vor die Gewißheit, eine Heimat zu haben, penetrant andere Sachverhalte geschoben werden, vorzugsweise ideologische? Er hat, er hat.
2 Früher, nicht gerade Vor-der-Wende, sondern ganz früher, war es so: Eltern, verwitwete Mütter, holten uns sanft und sachlich aus dem Schlaf, sie stellten uns warmes Wasser zum Waschen hin, das Schulbrot war eingewickelt, und während wir frühstückten, hörten wir, benommen von der Nacht, aus dem Radio eine Mädchenstimme, die sang: „Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer“, und dann zählte sie auf, die Stimme, was alles, neben Städten und Dörfern, die Heimat noch sei, lieblich zwar, aber nicht sehr informativ.
„Bäume im Wald, Gras auf der Wiese, Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft und die Tiere der Erde und die Fische im Fluß sind die Heimat. Und wie lieben die Heimat, die Schöne. Und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört.“ Die Mädchenstimme war vergleichbar, war unseres Alters, war aber auch unerreichbar rein und vollkommen.
Auf dem täglichen Weg zur Schule hatten wir die Heimat im Rücken. Wir waren also unterrichtet, daß sie nicht nur ein Haupt (Städte und Dörfer), sondern auch einen Körper (Bäume, Gras, Korn, Fische, Vögel, Tiere) habe, wobei von keinem dieser Körperteile die Zugehörigkeit ungesagt blieb, die Gebundenheit des Baums an den Wald, des Fischs an den Fluß; all das waren Dinge, mit denen uns nichts Neues mitgeteilt worden war, Heimat war gewohnheitlich als landschaftliches und nur im Ausnahmefall als soziales Phänomen besungen worden.
Heimat integriert das Bekannte, das, wenn es hinter eben dem Begriff Heimat aufgereiht wird und sich mit dem eigenen Sinn der Musik verbindet, wieder zu leuchten beginnt, Kraft und Poesie gewinnt, vielleicht tröstet. Denn was da aufgezählt wurde, war ja nicht wegzuzaubern, sondern für jeden erreichbar. Von der Schönheit (der Heimat) kam die Liebe her, aus der Liebe (zur Heimat) erwuchs der Besitz (der Heimat) und aus dem Besitz (der Heimat) ergab sich die Selbstverständlichkeit des Schutzes des Besitzes, also: der Heimat.
Vielleicht ahnten wir, während wir auf dem Weg zur Schule waren, daß, viel mehr als durch Korn und Vögel unsere Heimatverbundenheit geprägt war von der Pünktlichkeit, mit der uns die verwitweten Mütter weckten. Vom trüben Licht, in dem wir die Augen aufschlugen und zur schäbigen schrägen Wand überm Bett blickten, von unserem peinlichen Status als Halbwaisen, von den Nachrichten über ein neues Geld.
Vom Radiogerät, aus dem die Kinderstimme drang, diesem dunkelbraunen Holzkasten mit dem stoffbespannten Lautsprecher und der orange leuchtenden Glasskala, auf der das Wort Hilversum ein Rätsel war, welches man nicht zerstören wollte, indem man fragte oder nachschlug.
Niemand war da, der das Heimatlied geschrieben hätte: die Schuppen auf dem Hof mit ihrem gründlichen Bewuchs, die Hühnerställe und die Karnikkelbuchten, den engen Torweg, in dem sich die Betrunkenen von Medigers Kneipe ausschifften (aber manchmal weinten sie auch), der weite Weg zum Sumpfsee, auf dem man immer Durst bekam und vor allem die brennende Wäscherei im Nachbarhaus eines Nachts und ihren Besitzer, der sich in die Flammen stürzen wollte aus Angst vor den Russen, für die er vornehmlich wusch. Vielleicht waren wir erleichtert, daß wir diese dunklen und störenden Dinge erlebten und nicht vorgesungen bekamen, sondern das hellgrüne Gras auf der Wiese.
3 Die Heimat also, ein natürliches und kein soziales Wesen, das naiv genug ist, sich schön zu machen und seine Pracht in den Wellen zu spiegeln? War sie so, oder sah man sie so aus dem Wunsch, im Rahmen der Tradition zu bleiben, und im Versuch, sich den Diktaten der Ideologen nicht stellen zu müssen? Dann endeten solche, immer von Kindern gesungenen, aber nicht nur für Kinder gedachten, Lieder in günstigen Fällen auf seltsame Weise: Die Blume öffnet sich dem Licht, / der Zukunft unser Herz. / Die Heimat hebt ihr Angesicht / und lächelt sonnenwärts.
Was würde sie in Bälde noch alles tun, die Heimat? Ein Leben neben der Gesellschaft war entstanden. Ein Leben zwischen Philosophie und Natur. Entsinne ich mich recht, habe ich immer Die Heimat ... lächelt sonderbar gehört und gesungen. Ja, irgendwie kam mir die so dargestellte Heimat ein wenig krank, wahrscheinlich geisteskrank, vor, ohne daß ich mir dabei einen ausschließlich negativen Wert vorstellte.
4 Die Rolle des Herstellers von Liedern, auch Heimatliedern, und ich rede hier nur von solchen, die ich aus dem Gedächtnis zitieren kann, an denen ich wirklich etwas gefunden habe, diese Rolle kann wechseln. Sie kann übergehen von den Chorleitern und Leuten, die Chorleitern nahestehen, auf die Gitarrenspieler, die ihre Songs selbst singen. Als nach dem Faschismus die ärgste Scham überwunden war, als die größten Illusionen am Arbeiter- und-Bauern-Staat vergangen waren, meinten kindliche Musikanten und Kulturwissenschaftler, kindliche Philosophen und Dichter, mit dem vorgefundenen Stück Land, mit den vorhandenen Politikern auskommen und das erreichbare Stück Stadt- und Landwelt als Heimat ausgestalten zu können, zunächst mal im Klub und im Lied. Man stellte sich vor, daß man dabei Bob Dylan und den Beatles ähneln sollte, wenn auch unter den beschränkten Möglichkeiten des DDR genannten Innenraums. Während die Politiker „Überholen, ohne einzuholen“ riefen und auf den Westen sahen, wiederholten die kindlichen Liedermacher die Parole unhörbar und schielten dabei auf ihre Politiker. Ihre Heimat war das Land von Einstein, von Karl Marx und Bach / wo jede Antwort endet mit dem Fragezeichen, / wo ich ein Zimmer habe unterm Dach ... Das ist das Land, wo die Fabriken uns gehören, / wo der Prometheus schon um fünf aufsteht. / Hier kann man manche Faust auf manchen Tischen hören, / bevor dann wieder trotzdem was nicht geht. Hier schaff ich selber, was ich einmal werde. / Hier geb ich meinem Leben eigenen Sinn. / Hier habe ich meinen Teil von unsrer Erde, / der kann so werden, wie ich selber bin.
Das Heimatlied war aus der Landschaft in die Städte gezogen, von der grünen Wiese in den Stein, den Beton. Hausgemachte Erfahrungen. Hausgemachter Optimismus. Hausgemachte Ironie und Koketterie. Wer um jeden Preis auf den Besitz einer Heimat besteht, wird Bereitschaft zur Ein- und Unterordnung aufbringen müssen. Heimat scheint nur zu funktionieren als kleinster gemeinsamer Nenner, der Begriff hat nur Kraft, wenn sich viele Menschen auf einen Inhalt einigen können.
Während im alten Heimatlied die Unzerstörbarkeiten der Natur als ewiger Wert angeboten wurden, tauchte im neueren die Widerstandskraft und Sozialität des Menschen auf, aber da man sich gelegentlich großer Worte schämte, überzog man das Produkt mit ironischer Distanz und setzte neben die Erhabenheit das sympathisch Triviale. Man ging davon aus, daß dieses Land einfach und überschaubar war; und daß es der Unwägbarkeiten und Transzendenzen bürgerlicher Systeme entbehrte, nahm als Tugend, ohne sich vergewissert zu haben, daß es wirklich eine Not war: Hier schaff ich selber, was ich einmal werde.
Und wenn man komplimentierte, dieses Land, dieser Teil von dieser Erde, der kann so werden, wie ich selber bin, dann war das nicht ohne Stachel, es war auch eine Warnung, es war auch die blanke Unlust, sich auf die Hobelkünste des unbeholfenen Staates einzulassen.
Aber die Heimatdichtung bleibt die Schlichtung. Die beste Welt gibt es in drei Arten: Die Welt, wie sie ist (das ist, übrigens überall, für die herrschenden Politiker die beste der Welten), die Welt, wie sie wird, wenn nur alle Menschen nach besten Kräften mitgestalten, und drittens, die Welt, wie sie war. Wie sie war, als wir Kinder waren.
Die Sehnsucht nach der ungestörten Idylle kann ohnehin nur noch imaginativ erfüllt werden, vermerkte Nicolas Born. Sie ist nicht die Lebenslüge; sie schafft im Gegenteil die schmerzhafte Korrespondenz mit der Realität, dem schmerzhaften Vergleich zwischen phantastischem Anspruch und realem Angebot. So wird die Heimat zur Utopie. Ohne utopische Kräfte kann das Heimatlied nur versagen, es wird nicht gehört, es wird nicht gesungen. Aus seiner Bescheidenheit, aus seiner Kindlichkeit, aus seiner frommen Denkart bezieht es seine Wirkung, wenn als das ehrlich empfunden ist.
5 Und schließlich. Verliert man mit dem Verschwinden der DDR eine Heimat? Was wäre diese Heimat gewesen, wenn sie eine war? Man mußte nicht, wenn man nicht wollte, insofern war man frei. Man brauchte nicht arm zu sein und konnte unversehens armselig werden. Ja, ja, man brauchte sich nicht anzustrengen, und noch die Unfähigsten konnten unbarmherzige Feldzüge gegen die Mittelmäßigkeit fordern. Es gab viel Humor und wenig zu lachen, aber immer noch genug.
Und gewinnt man mit dem Auftauchen in, sagen wir doch einmal, Deutschland eine neue? Verlust und Gewinn in einem? Ach, ich weiß nicht. Man wohnt ja weiter im selben Haus, geht durch dieselben Straßen, man wird denselben nutzlosen Fußballmannschaften verfallen bleiben. Menschen sind durch Politik viel weniger zu beeinflussen, als man glaubt. Sie sind viel mehr zu beeinflussen durch das Geld, das sie verdienen, wie sie es verdienen, was sie damit anfangen können und wollen, inwieweit sie sich von ihrem Geld vereinnahmen lassen. Die Leute, die es gelernt haben, leichtsinnig mit Geld umzugehen, besitzen gewaltige Sehnsuchtspotentiale, die ihnen auch nicht abhandenkommen werden, wenn sie sich zu eigen machen, das Geld, herrje, zu achten.
Der Heimatverlust beginnt ja schon da, wo ich meine Wohnung nicht selbst heize. Wo alles aussieht wie in Amerika, und mit ein paar geilen Videos kann ich mir die teure Reise sowieso sparen. Bin weder zu Hause noch in der Fremde, sondern vorm Gerät und neben mir. Wenn das nicht das letzte Heimatlied sein kann, dann hat es vielleicht Jürgen Rennert geschrieben: Mein Land ist mir zerfallen / Sein Macht ist abgetan. / Ich hebe, gegen allen / Verstand, zu klagen an.
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