Die Einstellung und die Haltung der Öffentlichkeit im Umgang mit der Kriminalität und den Kriminellen ist ein untrüglicher Zivilisationstest für jede Gesellschaft. Diese Feststellung ist exakt hundert Jahre alt, und sie stammt nicht aus dem Munde eines weltfernen Philantrophen, sondern von Winston Churchill.
Heute ist von einem „Zivilisationstest“ im Zusammenhang mit dem Umgang von Staat und Gesellschaft mit ihren Kriminellen kaum noch die Rede. Die Frage des Kriminologen Nils Christie, wie viele Gefangene eine Gesellschaft vertragen kann, bevor sie ihre eigene Identität verliert, löst bei den meisten Menschen Kopfschütteln, wenn nicht gar Aggression aus.
Besonders in den USA und Großbritannien ist eine Kehrtwende im Umgang mit der Kriminalität zu beobachten. Aber auch in Deutschland ist dieser Trend offenkundig. Er lautet: Weg von Liberalisierung und Humanisierung, weg vor allem von der Resozialisierung und dem Bemühen, den Gefangenen zu befähigen, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“. Stattdessen gewinnt eine Haltung immer mehr an Boden, die nicht mehr vom Prinzip des „Staatsbürgers hinter Gittern“ ausgeht. Dieses Wort von Gustav Heinemann verwendet heutzutage kaum jemand mehr, dem es um Kriminalpolitik geht. Da ist eher von der Wiedereinsetzung der Härte des Gesetzes in ihren früheren Stand die Rede. Da wird der Geist des Strafvollzugsgesetzes von 1976, der das Leben hinter Gittern „den allgemeinen Lebensbedingungen so weit als möglich“ anzupassen versprach, als „Kuschel- oder Hotelvollzug“ diffamiert.
Viele Kriminologen, die es besser wissen sollten, verschließen ihre Augen davor, dass auch die deutsche Kriminalpolitik in den exzessiven Sog der strafenden Auf- und Ausrüstung der Politik geraten ist.
Wie weit sich die Gesellschaft von den Prinzipien eines humanen Strafvollzugs entfernt hat, ist aktuell am Streit um die Sicherungsverwahrung zu beobachten. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssten sofort 70 Häftlinge freigelassen werden. Einige sind bereits auf freiem Fuß. Die Richter hatten moniert, dass die Sicherungsverwahrung für schwerkriminelle Straftäter rückwirkend verlängert worden war, obwohl zum Zeitpunkt der Anordnung – vor 1998 – das Gesetz eine Höchstgrenze von zehn Jahren vorsah.
Seitdem diskutieren Politik und Justiz über eine mögliche Reform – und kämpfen mit harten Bandagen. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) will die umstrittene, nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung abschaffen – und trifft auf erbitterten Widerstand von Teilen der Unionsfraktion. Diese wollen von den bereits im Kabinett beschlossenen Eckpunkten des Leutheusser-Schnarrenberg-Entwurfs plötzlich nichts mehr wissen. Stattdessen möchten CDU/CSU die alten Verhältnisse durch die Hintertür wieder einführen: Der präventive Freiheitsentzug soll nach Unionsvorstellungen sogar noch ausgebaut werden. Alle aber halten an der Sicherungsverwahrung fest.
Dabei ist die hektische Entwicklung der strafrechtlichen Sicherungsverwahrung in der Bundesrepublik während des letzten Jahrzehnts vor allem eines: skandalös. Die Herkunft dieses „deutschen Ersatzes für die Todesstrafe“ (Heribert Prantl) aus dem Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933 meistens übergehend, ist die Sicherungsverwahrung seit 1998 in mehreren Schritten materiell immer weiter verschärft worden. Der Präsident des Bundesgerichtshofs Klaus Tolksdorf hat diese Tendenz einmal auf diese Kurzformel gebracht: „Leichter rein, länger drin, schwerer raus.“ Das strafrechtliche Institut der Sicherungsverwahrung ist hierzulande das Terrain, auf dem sich Strafwut und „Straflust“ in der Gesellschaft ausagieren. Es ist die politische und staatliche Antwort auf dämonisierende Vorstellungen in der Gesellschaft von bestimmten Formen von Kriminalität und ihren Tätern – geschürt nicht nur vom Boulevard und seinen Medien, sondern auch von Politikern. Sie haben entdeckt, dass der Kampf gegen Kriminalität sich spätestens am Wahltag auszahlt: Politiker, die zurecht stets betonen, dass es „letzte Sicherheit“ nicht geben kann, anderntags aber davon schwadronieren, letzte Sicherheitslücken zu suchen und zu schließen.
Dieses Strafverlangen, das derzeit vornehmlich auf Sexual- und Gewaltstraftäter gerichtet ist, entspringt einem Klima verbreiteter Verunsicherung, das einerseits seine eigentlichen Wurzeln jenseits des Strafrechts und der Kriminalität hat, anderseits einem politischen und staatlichen Regime Möglichkeiten der Selbstdarstellung liefert, die ein US-Kriminologe auf die Pointe gebracht hat: „Regieren mittels Kriminalität.“
Wie weit weg wir von einer Kriminalpolitik sind, wie sie Churchill einst visionär entwarf, lässt sich an der Fortführung seines Zitats ablesen: „Eine ruhige und leidenschaftslose Anerkennung der Rechte des Beschuldigten – und selbst des verurteilten Kriminellen – gegenüber dem Staat … der Wunsch und die Ungeduld zur Wiedereingliederung des straffällig Gewordenen in die Welt der Arbeit.“ Es mutet an wie eine Stimme aus dem Off. Die Kriminalpolitik der Gegenwart kann jedenfalls keinen Anspruch auf das Etikett der Zivilisation erheben.
Fritz Sack war langjähriger Leiter des Instituts für Kriminologische Sozialforschung in Hamburg
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