So genau haben wir es bislang noch nicht gesehen. Auf einer Doppelseite präsentierte Bild die Fotos all jener, die beim Absturz der Concorde ums Leben gekommen sind. In der Bunten werden wenig später alle Schicksale en detail ausgebreitet: "114 Schicksale". Wollten wir es wirklich so genau wissen?
Einige der Hinterbliebenen jedenfalls sehen mit dieser Art Berichterstattung die Persönlichkeitsrechte verletzt und wollen Anklage erheben. Auf dem Prüfstand stehen wieder einmal journalistische Methoden. Das wird schon langsam zur Gewohnheit. Hier die Affäre um den Interviewfälscher Tom Kummer und den Borderline-Journalismus. Dort das nicht selten zweifelhafte Verhalten einiger Fernsehleute bei den philippinischen Geiselgangstern auf Jolo. Hier die Sucht nach dem exklusiven Bild, dort die Gier auf die Breaking News. Es hat sich etwas verändert im Journalismus. Vielleicht hat das angefangen mit dem Geiseldrama von Gladbeck vor einigen Jahren. Seither beobachtet man aufmerksamer die publizistischen Umgangsformen.
Zum Beispiel bei der Concorde-Tragödie - für das Fernsehen in seiner Bildersucht eine Herausforderung. Am liebsten wären die Bildmedien der Realität ja so weit voraus, dass sie jeweils vor den zu berichtenden Ereignissen schon mit ihren Kameras und Tonmaschinen an Ort und Stelle sind, um sie direkt zu übertragen. Das ist logischerweise nicht immer möglich. Zwei Auswege gibt es, beide wurden im Fall der Concorde-Berichterstattung begangen. Erstens lassen sich Ereignisse zumindest in Teilen per Computerbild simulieren, damit die Vorstellungskraft einen Halt findet - am häufigsten zelebriert seinerzeit bei der ICE-Katastrophe von Eschede. Zweitens ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass irgendwo jemand unterwegs ist, der mit Videokamera oder mit Foto-Wegwerfkamera zufällig das Ereignis einfängt. Solche Amateurbilder werden dann eingespeist in den kommerziellen und globalen Bilderhandel. Wie man hört, sind für die wenigen existierenden Bilder und Videosekunden von der abstürzenden Concorde jeweils fünfstellige Summen bezahlt worden.
Während in den Tagen danach in den TV-Nachrichten immer das gleiche Amateurvideo den Nachrichtentext untermalt, wie auf einer Endlosschleife, haben diesmal die Printmedien einen neuen Weg gefunden, das Wasser des Unglücks auf ihre Mühle zu lenken: sie haben die relative Anonymität des Unglücks durchbrochen und präsentieren die Opfer mit Bild, Name, Adresse und Geschichte. Angefangen damit haben die Regionalblätter in Düsseldorf und Mönchengladbach, woher ein Teil der Opfer kam und die auch zur lokalen Prominenz gehörten. Da mag man den Grund und den Einzelfall noch akzeptieren. Es würde wohl wenig Sinn machen, Menschen anonym zu halten, die in einer Stadt prominent sind.
Aber dann kam Bild bundesweit und legte eben diese Doppelseite mit Fotos und Namen der Toten vor, wie eine Art Fotoalbum. Dabei lernt man doch in jeder Journalistenschule, in jedem Volontariat als Grundregel: Opfer von Unglücksfällen bleiben anonym, die Familienangehörigen bleiben von Öffentlichkeit verschont - außer sie geben die ausdrückliche Einwilligung. Das ist Persönlichkeitsrecht und steht vor jeder Informationspflicht. In diesem Sinn ist die Sachlage einerseits rechtlich ganz klar - andererseits aber eben doch nicht. Denn jetzt sieht es so aus, als würden, wieder einmal, Maßstäbe verschoben, wieder einige Grenzen verlegt. Borderline-Journalismus im Katastrophen-Alltag.
Diese Grenzverlegung hat natürlich mit dem Kommerzialisierungsdruck zu tun, der jetzt auch als seriös und mittellangweilig geltende Regionalblätter dazu bringt, Boulevard-Methoden anzuwenden. Inzwischen haben Familienangehörige, die das eben nicht so einfach hinnehmen wollen, mit Klage gedroht. Zumal einige Fotos ja ganz offensichtlich auf eher problematische Weise in die Medien gelangt sind.
Im Auftrag einiger Familienangehöriger will Gerhart Baum, Rechtsanwalt und ehemals Innenminister, darüber auch Beschwerde beim Presserat führen. Weil Bild nicht die ganz großen Home-Stories abgezogen hat und in der Präsentation relativ zurückhaltend agierte, könnte es sogar sein, dass der Presserat diese Veröffentlichungspraxis für akzeptabel hält - was ein Zeichen dafür wäre, dass sich die Maßstäbe doch geändert haben. Vielleicht lässt sich ja auch die Frage klären, was eine "relative Person der Zeitgeschichte" ist. Dies Argument muss jetzt nämlich herhalten, die Veröffentlichung zu begründen. Dem Begriff kann man geradezu ansehen, dass er für allerlei Mißbrauch taugt und selber höchst relativ ist. Man könne nicht jemanden ohne weiteres zur relativen Person der Zeitgeschichte erklären, sagt Siegfried Weischenberg, Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes (DJV), "nur weil diese Person unglücklicherweise ein Opfer eines schweren Unglücks geworden ist."
Vielleicht steckt man jedoch auch schon in der Falle, wenn man sich auf solche Begriffsexegesen einläßt. Wissen doch alle, Schreiber wie Leser, Verleger wie Versender, dass das alles mit Informationspflicht nur sehr am Rande zu tun hat. Es geht um das auflagensteigernde Spiel mit Gefühlen. Um das Spiel mit dem Erschauern, selbst noch einmal davon gekommen zu sein. Als weitere Erregungsfläche kommt hier noch die soziale Distanz dazu, die die meisten Leser von denen trennt, die sich einen Concorde-Flug und eine Kreuzfahrt leisten können. Es geht darum, den Lesern das Gefühl zu geben, die Opfer ein wenig gekannt zu haben, vielleicht aus der Stadt, vielleicht aus der Ferne. Oder wenigstens ein klein wenig über ein Bild in der Zeitung. Aus dieser Perspektive ergeben auch die Argumente keinen rechten Sinn, die den lokalen Blättern Informationsinteresse, den überregionalen aber Voyeurismus unterstellen wollen. Vom Desastertainment leben doch alle.
Es bleibt ein wachsendes Unbehagen. Ist doch absehbar, dass bei der nächsten Katastrophe wieder Journalisten-Pulks mit Kamera und Mikrophonen vor Häusern und Gartentoren wegelagern werden. Ist doch sonnenklar, dass dann wieder wie gewohnt Boulevard-Schreiber ausschwärmen werden zum "Witwenschütteln" - so heißt im zynischen Branchenjargon die Tätigkeit, Fotos und Stories bei den Hinterbliebenen einzutreiben. Im Fall der Concorde-Opfer fühlten sich wohl einige Angehörige dazu veranlasst, mehr bedrängt als freiwillig, die Meute mit improvisierten Pressekonferenzen zu füttern und sich damit relative Ruhe zu verschaffen. Eine verständliche Reaktion auf die Hypertrophie eines Mediensystems, das dazu herausfordert, jede Regung und jede Erregung auszuforschen und auszuhorchen und zu diesem Zweck weder die Toten in Ruhe zu lassen noch die Lebenden.
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