Die gute und die schlechte Fee

Sympathieerklärungen Hans Christian Andersens Märchen in illustrierten Neuausgaben

Natürlich ist der Kaiser nackt, aber nur ein Junge hat es erkannt. Doch was heißt schon nackt. Günther Grass zeichnet eine etwas höhnische Nacktheit, wie sie ein Republikaner einer so lachhaft feudalistischen Figur schon mal entgegenbringen kann: dicklich, weich, ein kümmerliches Geschlechtsteil als Anhang. Der Engländer Joel Stuart malt den nackten Kaiser dagegen fast geschlechtslos, nur von hinten und von der Seite, auch dieser Kaiser ist leicht angefettet und von allen der Eitelste: ein Geck. Und Nikolaus Heidelbach malt, was in Andersens Märchen steht: dass die Menschen glotzen und sehen, was sie sehen wollen.

Drei Illustrationen zu einem der berühmtesten Märchen des Hans Christian Andersen, enthalten in drei opulent ausgestatteten Andersen-Ausgaben. Im nächsten Frühjahr steht der 200. Geburtstag des dänischen Dichters an, eines Dichters, der immer noch als Dichter für Kinder angesehen wird. Andersen selbst sah sich anders. Er schrieb immer auch für Erwachsene. "Ich greife eine Idee auf", hat er einmal geschrieben, "die für Ältere gedacht ist - und erzähle sie dann den Kleinen, während ich daran denke, dass Vater und Mutter oft zuhören, und ihnen muss man etwas für den Verstand geben". So sind Andersens Märchen auch immer auf verschiedene Weise zu lesen: das vom standhaften Zinnsoldaten etwa als kindgemäße Abenteuergeschichte ebenso wie als Satire aufs Militär.

Andersen selbst hat mit seinen Märchen die Kinderliteratur seiner Zeit verändert. Die war bis dahin moralisierend, er hat Humor, Anarchie, einen Schuss Surrealismus und nicht selten auch brutale Wirklichkeit in sie eingeführt. In seinen besten Stücken erzählt er über das Leben und den Tod, über Schmerz, Armut und Einsamkeit.

Andersens Märchen sind Weltliteratur und jede Zeit adaptiert sie auch für sich. So hat eben Frank Castorf Andersen unter folgendem Blickwinkel in der Volksbühne inszeniert: "Wir leben in einem nachwissenschaftlichen Zeitalter, in dem Spekulation und Intuition wieder wichtig werden. In einer Welt, die durch Bill Gates geprägt ist, interessiert mich der Erfolg von Harry Potter. Diese Welt sehnt sich nach Märchen." Nicht zufällig hat Castorf dafür eines der rätselhaftesten und vieldeutigsten Märchen, Die Schneekönigin, ausgewählt.

Auch die drei neu erschienenen illustrierten großen Ausgaben liefern ihre jeweils eigene Interpretation der Märchen und unterscheiden sich in der künstlerischen Handschrift ebenso wie in der Gewichtung, die sie für Leser treffen.

Stuarts Illustrationen richten sich erkennbar an Kinder als Leser. Günter Grass mit seinen kraftvollen Lithografien und seiner manchmal drastischen Bildsprache hat wohl mehr den erwachsenen Märchenliebhaber vor Augen. Und Nikolaus Heidelbach sitzt wie immer auf der interessantesten Position zwischen den Stühlen. Seine Interpretation wird Kindern gefallen und Erwachsenen, nicht weil sie unentschieden, sondern weil sie reich und doppelbödig ist.

Die Auswahl des Sauerländer Verlags ist die schmalste. Von 156 Märchen sind hier 13 ausgewählt, darunter die bekanntesten. Jeder Geschichte ist ein kleiner nützlicher Text zu Motivwahl und Werkgeschichte vorangestellt. Joel Stuarts Bilder sind leicht, luftig und spielerisch, manchmal scheinen sie zu kichern, aber sie sparen auch die dunkle Seite der Märchen nicht aus. "Es heißt", schreiben die Herausgeber im Vorwort, "dass sich zu Andersens Taufe zwei Feen eingefunden haben, eine gute und eine böse". Joel Stuart lässt die beiden Feen als Vignetten durch die Seiten geistern, als sollten sie die Leser an die Hand nehmen auf der Reise durch Andersens fantastische Welten.

Günter Grass wählt als Titelerzählung Der Schatten - das Märchen von dem Gelehrten, der seinen Schatten ausschickte, das Leben der Menschen zu erkunden, bis dieser als Mensch zurückkehrt, den Gelehrten beherrscht und ihn am Ende vernichtet. Ein düsteres Märchen aus der bürgerlichen Welt, das man heute auf die Kernenergie wie die Medien gleichermaßen anwenden könnte. Ein Märchen aus Andersens Welt, der selbst schon als Kind mit Puppentheater und Scherenschnitten experimentierte.

Als letztes Bild der Ausgabe zeichnet Grass Andersens Kopf und setzt sich selbst gegenüber - mehr als eine Sympathieerklärung. Die biographischen Bezüge, die in Andersens Märchen immer drin stecken, holt er auch sonst immer wieder in seine Illustrationen. Am deutlichsten im Märchen vom hässlichen Entlein. Andersen muss sich selbst als hässlich empfunden haben, ein langer Mensch mit langen Extremitäten, langem Hals und drauf einem Kopf wie ein Knauf - so beschrieb ihn einst ein Dichterkollege.

Den Lithographien von Grass merkt man an, dass er sich im Märchen auskennt, mit Butt und Blechtrommel einschlägig vorbelastet. Man sieht auch die Theaterpranke. In seinen Illustrationen tobt die Action und er nimmt sich kein Zeichenblatt vor den Mund. Wenn im Märchen von den roten Schuhen dem tanzenden Mädchen die Füße abgehackt werden, dann liegen sie eben so abgehackt auf der Seite herum. Und wenn im Märchen von den Sieben Schwänen die verzauberten Prinzen zur Rettung ihrer Schwester anfliegen, dann fegt da eine Kampfarmada durch die Luft. Grass´ Zeichnungen sind kraftvoll und direkt, erfassen das Wesentliche meist in der Bewegung, sind Kommentar so gut wie eigene Interpretation.

Nikolaus Heidelbach, mit seiner Illustration der Grimm-Märchen gleichfalls einschlägig vorbelastet, ist von allen drei Illustratoren der raffinierteste. Wo Grass die Aktion liebt, malt Heidelbach am liebsten das Tableau. Und ihm gelingt es fast immer, eine Perspektive zu finden, die andere noch nicht gehabt haben. Grass legt im "Mädchen mit den Schwefelhölzern" das tote Mädchen im Bildhintergrund ab und setzt in den Vordergrund die abgebrannten Streichhölzer. Nikolaus Heidelbach legt erst zu Beginn der Geschichte vignettenartig das Mädchen als Puppe in einen Kinderschuh, arbeitet also mit Symbolen von Armut, um dann von des Mädchens tödlichem Wintertraum nur die abgebrannten Streichhölzer liegen zu lassen.

Natürlich laufen auch in dieser Ausgabe die Heidelbach´schen stupsnasigen Gören und Lausbuben über die Seiten, freilich meist verkleidet in Andersens Figuren. Am bemerkenswertesten aber sind seine Tierzeichnungen. Heidelbach ist ein Meister der Tierillustration geworden. Er ist genau im Detail, in der malerischen Oberfläche wie in der Bewegung, aber erfasst immer zugleich auch die poetische Dimension.

Und mit seiner peniblen Malweise ist er auch noch auf andere Weise Andersen verwandt. In dessen Märchenwelt spielen die Dinge eine große Rolle. Die Kinderzimmer und Küchen leben, ein einarmiger Zinnsoldat wird zu einem Protagonisten, und wenn der Erzähler es will, dann kann der Wichtel dem Bottich auch schon mal einen Mund umbinden, um ihn zum Reden zu bringen. Bällchen und Kreisel, Schere und Amboss, Kragen und Bürste - Heidelbach lässt auch sie auf seine Weise zu Wort kommen.

Freilich müssen sich Illustrationen vor allem daran messen lassen, ob sie den Erzählungen dienen oder sich vor ihnen aufplustern und sie wegdrängen wollen. Keiner der drei Illustratoren erlaubt sich eine solche Dreistigkeit. Welcher Interpretation man auch zuneigen mag - mit keiner der drei Ausgaben kann man etwas falsch machen. Jede bringt auf ihre Weise die Märchen von Andersen zum Leuchten.

Und mit Staunen liest man, wie aktuell sie sich anhören. Das gilt für das sprichwörtliche von des Kaisers neuen Kleidern oder das vom Schatten, der sich zum Herrn aufschwingt. Aber auch für das weniger Bekannte vom Wichtel beim Fettkrämer (in anderer Übersetzung: "Das Heinzelmännchen beim Speckhöker"). Der Wichtel wohnt beim Fettkrämer und wird dort mit Grütze versorgt. Bis er den armen Studenten unterm Dach entdeckt, der lieber aufs Essen als auf die Poesie verzichtet.

Der Wichtel ist hingerissen vom poetischen Eifer, muss aber dann doch den Kompromiss wählen: "Ich werde mich zwischen beiden teilen", befindet er am Ende, "ich kann der Grütze wegen den Fettkrämer nicht einfach aufgeben". Und Andersen, der natürlich Wichtel und Student in einem ist und in seinem Leben diesen Widerspruch auch hart erfahren hat, setzt als Moral hinten dran. "Und das war durchaus menschlich! - Wir anderen gehen auch zum Fettkrämer - der Grütze wegen".

Hans Christian Andersen. Märchen. Bilder von Nikolaus Heidelbach. Beltz Gelberg, Weinheim Basel 2004, 374 S., 38 EUR

Der Schatten. Hans Christian Andersens Märchen - gesehen von Günter Grass. Steidl, Göttingen 2004, 279 S., 39,50 EUR

Hans Christian Andersen: Das große Märchenbuch. Illustriert von Joel Stewart. Sauerländer, Düsseldorf 2004, 207 S., 19,90 EUR


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