Die Geschichte erzählt sich fast von selbst: eine Story aus dem realen Kapitalismus. Einiges weiß man noch davon, wie es dieser gewisse Jürgen Schneider anstellte, ein Super-Bauprojekt nach dem anderen hochzuziehen, dazu den Banken Milliarden aus den Tresoren zu leiern, dann Pleite zu machen und nach kurzem Auslandsaufenthalt vor Gericht den reuigen Sünder zu spielen. Aber man lässt es sich gerne noch einmal erzählen, jedenfalls auf diese Weise: als eine Geschichte darüber, wie es um die Eliten in diesem Land bestellt ist. Wie bei den Herren der Milliarden die Geldstücke in den Augen klimpern wie die Dollars bei Dagobert Duck. Und wie ab einer bestimmten Rendite-Erwartung der Verstand aussetzt.
Vorgeführt hat dieses Lehrstück Gert Monheim in der Dokumentation Der Milliardencoup des Dr. Schneider, der unter dem Reihentitel die story in der ARD lief. die story war Anfang Januar zum erstenmal im Ersten und wird im ersten Halbjahr noch in fünf weiteren Folgen dort auftauchen: investigative Dokumentationen über das Nikotin-Kartell, über den Irak und über den Kosovo-Krieg werden folgen.
Das alles ist insofern interessant, als sich daran gut beobachten lässt, wie schwierig es ist, in festgefahrenen Programmstrukturen neue Formen zu entwickeln und zu etablieren. Im Dritten WDR-Programm läuft die story schon seit einem Jahr einmal wöchentlich. Nur sind die Filme dort nicht weiter aufgefallen. Sie konkurrieren am Sonntagabend mit dem Tatort, der das gleiche Publikum anzieht und erreichen zwei bis drei, manchmal bis zu fünf Prozent der Zuschauer. Das ist auch für Filmemacher, die nicht ausschließlich auf die Quote schielen, zu wenig. Dabei sind die absoluten Einschaltzahlen nicht schlecht, denn am Sonntag Abend sitzen viele Zuschauer vor der Glotze.
Das Konzept ist anspruchsvoll: "die story erzählt filmische Geschichten, die über einen 45 Minuten währenden Spannungsbogen und über eine markante innere Struktur verfügen. Sie erzählt stringent und prägnant, anstatt Material wie das Feature zu versammeln oder Augenblickseindrücke wie die Reportage zu schildern." Auf Personen sollen sich die Filme konzentrieren, auf Orte, auf besondere Konflikte, auf alles, "was die Welt wie in einem Wassertropfen zeigt". Dabei aber auch und vor allem filmisch erzählen. Gert Monheim, WDR-Redakteur, Autor und Leiter des Projekts: "Ich glaube, dass wir die Möglichkeiten des Films stärker nutzen müssen". Das soll auch für den Typus der politischen Dokumentation gelten, die bisher weitgehend von Feature und Reportage beherrscht werden.
Dass Dokumentaristen nicht nur berichten, sondern erzählen, ist nicht neu. Im Print-Journalismus ist "story-telling" ein immerwährendes Thema, mindestens seit Tom Wolfes "New journalism" mit der subjektiven Ausrichtung, dem Blick aufs Detail, der filmischen Struktur, der Personalisierung und den häufigen Perspektivwechseln. Kaum ein Journalisten-Seminar, in dem nicht etwa der "szenische Einstieg" schon im Grundkurs besprochen wird. Im Fernsehen selbst finden sich auf dokumentarischem Feld viele verschiedene Erzählerformen - von der Docu-soap mit der übergestülpten Serien-Form bis zu den weltmarktkompatiblen "discovery"-Stücken.
Die Tendenz zum Erzählen hat wohl auch mit dem Sehen und Wahrnehmen zu tun, wie es durch die Muster der Unterhaltungsindustrie geprägt wird. Vielleicht wird aber generell diese Form der Kommunikation wichtiger in einer Gesellschaft, in der immer mehr Daten produziert werden und in der wir zugleich über zu wenige Mittel verfügen, diese Daten und Informationen in Wissen zu verwandeln und anzueignen. Erzählen ist immer auch: Einordnen, gewichten, den Ereignissen eine Struktur geben. Strukturiert Erzähltes bleibt leichter im Gedächtnis haften als bloß gehäufte Fakten, so wichtig sie auch sein mögen.
Bloß liegen die erzählbaren Stoffe nicht auf der Strasse. Nicht selten hat die Redaktion ein Thema, das sie behandeln möchte, aber nicht die Story dazu. Lange etwa war ein Genfood-Projekt geplant. Der Film kam erst zustande, als der Autor Thomas Liesen auf den britischen Biologen Arpad Pusztai stieß, der zu dramatischen Erkenntnissen über Langzeitwirkungen von gentechnisch veränderten Lebensmitteln gekommen war. Seine Geschichte, wie er erst berühmt, dann kaltgestellt wurde und gegen die Lobby der Lebensmittelindustrie kämpft, ließ sich erzählen: als die gute alte Story vom Kampf Davids gegen Goliath.
Die bisherigen Filme der Reihe bieten ein durchmischtes Bild. Noch ziemlich viel Journalistisch-wortlastiges, selten wirklich stringentes Erzählen, hier und da willkürliche Perspektivwechsel, Rückfälle ins Häufchen-Prinzip des Features. Es gibt grade beim WDR eine lange Tradition, wonach Dokumentationen vom Wort her entwickelt, vom Kommentar gehalten werden; die Bilder illustrieren oft nur Thesen. Auch ist durchkomponiertes Erzählen aufwendig und anstrengend: "Selbst Autoren mit gutem Namen waren nicht bereit, die Anstrengung auf sich zu nehmen", sagt Monheim, "manche haben resigniert wegen der Verwilderung der Sitten auf vielen Programmplätzen, wo mehr nach Spektakulärem verlangt wird." Außerdem lässt sich heute mit bunten Reportagen schneller dasselbe Geld verdienen. Die Redaktion setzt verstärkt auf junge Autoren und leistet Entwicklungsarbeit.
Die Gratwanderung wird ein Kennzeichen der Reihe bleiben, eine produktive Bewegung hoffentlich. Manchmal scheinen die Macher sich selbst im Weg zu stehen, wenn sie sich auf die Suche machen, wie man gewünschte Themen "transportieren" kann - anstatt das Augenmerk ganz auf die erzählbaren Geschichten selbst zu richten; das Gespür für gesellschaftliche Relevanz bringen sie ohnehin mit. Wie man vom Wundertütenprinzip wegkommt und zugleich dem Problem der Versimpelung entgeht, muss jedes Mal neu geklärt werden. Es hat sich gezeigt, dass es gar nicht so einfach ist, zu akzeptieren, dass auch von Welt, Gesellschaft und Politik erzählen kann, wer Ereignisse von der Größe eines Wassertropfens genauer ansieht.
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