Viel Zeit zum Hinschauen

Medientagebuch Der Anti-Knopp: Dem ZDF-Dokumentaristen Hans-Dieter Grabe zum 70.

Die Lehrer am Gymnasium in Bad Sobenheim machten sich Sorgen. Würden ihre Schüler einem Film wie Mendel Schainfelds Reise nach Deutschland von 1972, dieser so stillen und ruhigen Dokumentation folgen wollen, in dem eigentlich nur ein Mann seine Geschichte vom Überleben im Konzentrationslager erzählt? Die Aula war voll und als der Film lief, wurde es still. Dabei geschieht nicht viel. Ein Mann fährt von Oslo nach München, er will ein ärztliches Gutachten, um als KZ-Opfer eine angemessene Rente zu bekommen. Auf dieser Fahrt beginnt er zu erzählen. Zum Beispiel, wie er sich heute noch schämt, dass er das Brot eines verstorbenen Mitgefangenen an sich genommen hat, aus Hunger - allein diese Szene erzählt mehr über die Unmenschlichkeit des Faschismus als alle Filme von Guido Knopp zusammen. Es blieb in der Aula still und konzentriert bis zum Schluss.

Solche Erfahrungen macht Hans-Dieter Grabe öfter. Seit er vor fünf Jahren als letzter festangestellter Dokumentarist beim ZDF seinen Schreibtisch räumte, hat er die Kamera zur Seite gelegt - untätig geblieben ist er nicht. Er kommt jetzt viel herum mit seinen Filmen, stellt sich Diskussionen, gibt seine Erfahrungen an Studenten und vor allem auch junge Zuschauer weiter. Man hört ihm zu und es zeigt sich: die Filme sind haltbar geblieben. Nicht obwohl, sondern weil sie sich jedem Format entziehen und jeder berechnenden und berechneten Wirkung. Emotionalisierende Musik, zerschnipselte Aussagen von Zeitzeugen oder gar Nachinszenierung - nichts davon wird man hier finden.

Grabe benutzte zum Beispiel Archivmaterial nur, wenn es stimmte und wirklich etwas aussagte. Präzise und deshalb glaubwürdig, das ist bis heute das Gegenprogramm zu der weitverbreiteten Methode, es mit den dokumentarischen Tapeten nur ungefähr zu nehmen, wenn bloß der Eindruck stimmt. Dabei verzichtete Grabe auf Mätzchen und Effekte. Seine Filme entzogen sich jeder Formatierung, sie sind, von heute aus gesehen, anachronistisch. Deshalb haben sie sich halten können.

Besonderes Kennzeichen der Filme ist der lange Atem des Autors. 1970 drehte er in Vietnam auf dem Lazarettschiff "Helgoland", es entstand der preisgekrönte Film: Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang. Er zeigte das Schicksal von Frauen und Kindern, die Opfer des Krieges werden, ein bis heute verstörendes Dokument. Grabe lernte den Jungen Do Sanh kennen und drehte über ihn noch vier weitere Filme - ein ganzer Lebenslauf, der präzise nachzeichnet, wie der Krieg lange nach seinem Ende noch Leben zerstört. Auch den Arzt Alfred Jahn beobachtete Grabe später wieder als Chef der Kinderchirurgie in Landshut und ging Jahre später mit ihm nach Ruanda, wo Jahn ein Kinderkrankenhaus aufbaute.

Man macht sich das heute gar nicht mehr so recht klar, dass diese Filme nicht ohne die Arbeitsbedingungen gelingen konnten, die Grabe noch vorfand. Er war einer der wenigen, am Ende fast der letzte der öffentlich-rechtlichen Redakteure, die als festangestellte Filmemacher ohne kommerziellen Druck arbeiten konnten. Die Zeit und Geduld aufbringen konnten, sich ihren Stoffen über langen Zeitraum widmen zu können. Nicht zufällig ist etwa die dokumentarische Langzeitrecherche im heutigen, von Tag zu Tag der Aktualität entlangproduzierenden Medium, eine aussterbende Gattung. Kurz: Ohne die Sicherheit des großen Senders hätte Grabe vermutlich seine Filme nicht machen können. Diese jedenfalls nicht und nicht in dieser Weise. Was dem ZDF zur Ehre gereicht: dass sie ihn haben machen lassen. Grabe gehörte nahezu vierzig Jahre lang zur außenpolitischen Redaktion, ohne sie je mit Beiträgen beliefert zu haben. Er verbrauchte mehr Zeit und Geld für Recherche als andere, durfte länger schneiden und hielt sich nicht an vorgeschriebene Längen. Aber wenn die Redaktion von ihm auch nichts gehabt hat, so bekam doch das ZDF eine Menge ab von seinem Renommee. Grabe hat so gut wie alle Fernseh-Preise gewonnen.

Grabes Filme sind ruhig und unspektakulär. Die Geschichten ergaben sich aus der Filmarbeit, ein Stoff führte zum nächsten. Er interessierte sich selten für viele Menschen gleichzeitig, er schenkte seine Aufmerksamkeit wenigen, dafür aber gründlich. Einer seiner letzten Filme, Gebrochene Glut (2001) beschäftigt sich mit dem Dokumentaristen Jürgen Böttcher, der sich als Maler Strawalde nennt. Damit zog er für sich selbst einen Lebensbogen, denn mit Böttcher hatte auch alles angefangen. Die beiden hatten in der DDR zusammen studiert, der Kontakt war auch nach Grabes Ausreise in den Westen bestehen geblieben. Jetzt lieferte er ein sehr persönliches Porträt des Malers. Darin zeigte er, wie Böttcher ein Bild anfängt und über künstlerische Produktion spricht. Weil Grabe wusste, dass seine Filme spät und für ein spezielles Publikum laufen, zeigte er den Malprozesses nicht bloß kurz, sondern zwanzig Minuten lang. Viel Zeit zum Hinschauen. Nichts für ungeduldige Leute. Aber wer will, kann sehen. Ausreichend Zeit zum Schauen und Gelegenheit, sich eine Meinung zu bilden - das hat Grabe seinen Zuschauern immer zugemutet.

Am 6. März wird Hans-Dieter Grabe 70 Jahre alt.

Sendetermine: 2.3. Phoenix, 22.15 Uhr Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland (1972)

3.3. Phoenix, 23.15 Mendel lebt (1999)

3.3.-9.3. ZDF-Dokukanal, Mehmet Turan und noch ein Jahr, noch ein Jahr (1977); Dragutin Trumbetas oder Liebe machen, bitte (1980); Abdullah Yakupogulu: Warum habe ich meine Tochter getötet? (1986)

4.3. 3Sat, 21.15 Uhr Er nannte sich Hohenstein (1994); 22.45 Uhr Epilog: Drei Frauen aus Poddembice (1995); 01.55 Uhr Letzte Stunden in Poddembice - Jacob Rosenkranz (1996)

5.3. Arte, 23.30: Diese Bilder verfolgen mich - Dr.med.Alfred Jahn

6.3. ZDF, 01:40 Vor 30 Jahren: Mehmet Turan oder noch ein Jahr, noch ein Jahr (1977); 02:45 Jens und seine Eltern (1990); 03:45 Jens von Sonntagnachmittag bis Freitagabend (1996)


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