Wer weiß schon, was in den Köpfen der Jungs vorgeht. Wer es wirklich wissen will, muss dann eben nachsehen, was sie so treiben, wenn sie glauben, dass ihnen keiner zusieht. Nikolaus Heidelbach hat nach- und zugesehen, draussen und wahrscheinlich in seinen Erinnerungen und zeigt nun, von Alfred bis Zacharias, einige überraschende Ansichten aus dem Jungenleben. Vor drei Jahren hat der Bilderbuchkünstler ebendies mit den Mädchen veranstaltet, "Was treiben die Mädchen?" hiess damals seine höchst ergiebige Forschungsfrage und insofern war diese Komplettierung jetzt fällig.
Wie meistens bei Heidelbachs Bilderbuchbildern muss man zweimal hingucken. Manche brauchen ihre Zeit, bis sie zünden. Sie tun gern harmlos, spielen Idylle und wollen uns Leser reinlegen, einlullen, in Sicherheit wiegen. Aber man muss sich nur einmal genau ansehen, was Lothar so mit sich führt, wenn er auf seine kleine Schwester im Kinderwagen aufpassen muss. Oder mit welcher Seelenruhe Paul, der fast alles sammelt, im Handwagen seine Friedhofsfunde nach Hause schleppt. Es steckt in mancher Aktion von Heidelbachs knopfäugigen Gestalten nackter Unfug, manchmal Gemeinheit, manchmal pure Poesie des Abenteuers. Und manche Dinge können eben wirklich nur Jungs, weitpinkeln zum Beispiel (Oliver gewinnt). So ganz nebenbei sind Heidelbachs Bilder auch zum Buchstabenlernen gedacht, von A bis Z eben. Die Buchstaben werden bilderbuchmässig von charmanten Mädchen gehalten, wahrscheinlich den Gören aus dem Mädchenbuch, und Nikolaus Heidelbach wird sich etwas dabei gedacht haben, dass er sie oft ein wenig herablassend hinüberlächeln lässt auf die Jungs von der gegenüberliegenden Buchseite.
Nikolaus Heidelbach: Was machen die Jungs? Bilderbuch. Verlag Beltz Gelberg, Weinheim 1999, 56 Seiten, 29,80 DM
Das Alphabet im Visier, aber an erster Stelle, haben Heinz Christine Brandt in ihrem Buch Rätselhaftes Tier-ABC. Bücher dieser Art gibt es nun schon seit vielen Jahren und man sollte gar nicht glauben, dass noch viel Neues dazu kommt. Hier schon. Die beiden Autoren kombinieren das Buchstabenlernen mit Bilder-Erraten und Reimbasteln, es geht tierisch zu in den gereimten Geschichten, ein wenig wie im Comic und immer hübsch ins Absurde verschoben. Was da beim K in großen Sprüngen samt Nachwuchs durchs Bild springt, ist alles andere als ein Känguruh, das kommt mit Faltentasche erst auf der nächsten Seite vom L, also schon wieder verkehrt, während die Leser die schwerwiegende Frage zu klären haben: "Wer musste den Inkas die Lasten tragen. Sie hatten noch keine Lastkraftwagen". Kurz und gut. Das Rätselhafte Tier-ABC macht Laune und macht schlau, macht stutzig und lustig und taugt bestens zu vergnüglichem Lernen oder lernendem Vergnügen.
Heinz und Christine Brand: Rätselhaftes Tier-ABC. Verlag Beltz, Weinheim 1999, 40 Seiten, 24,80 DM
Die englischen Bilderbüchermacher haben oft Omas im Visier, und zwar in einer sonderbaren Kreuzung von gutartig und Schreckschraube und zugleich so emanzipiert von allen Altersgebrechen, dass die restlichen Großmütter des Kontintents vor Neid erblassen müssten. Patricks Oma ist so eine. Eines Tages übernachtet Patrick bei ihr und kann nicht schlafen, was so viel heisst, dass er es nicht will. Ein paar Gründe hat er auch. Es gibt kein Bett, keine Decke, kein Kissen und keinen Teddy. Sowas bringt eine britische Oma nicht aus der Ruhe, sie hämmert und sägt und schert und strickt und näht und färbt, und verliert nur ein wenig aus dem Auge, dass darüber die Nacht vergeht und Patrick sein Ziel erreicht hat: Er hat nicht geschlafen. Waas heisst die Geschichte und das ist der Kriegsruf der Oma, wenn wieder was fehlt. Kate Lum und Adrian Johnson haben das so hinreissend erzählt und gezeichnet, dass man als Mitteleuropäer nur bedauern kann, niemals einer britischen Oma in die Quere gekommen zu sein.
Kate Lum, Adrian Johnson: Waas. Aus dem Englischen von Thomas Minsens. Palazzo-Verlag, Zürich 1999, 24 Seiten, DM 24, 80 DM
Mäh" sagt der Hotelmanager, als er an der Zimmertür klopft, um dem Mädchen Lotte das verlorene Stoffschaf zurückzubringen. So weit also ist in New York der Dienstleistungsgedanke schon gediehen. Überhaupt wird ziemlich viel Aufwand getrieben in Doris Dörries zweiter Lotte-Geschichte, die von einer Reise nach New York erzählt und von Lottes Schmusetier, dem Schlafschaf Erich, das zwar schon stinkt, aber zum Einschlafen dringend benötigt wird. Eine weite Reise, eine fremde Stadt, ein kleines Abenteuer. Dass die Filmemacherin Doris Dörrie eine gute Geschichtenerzählerin ist, weiss man inzwischen, auch im Bilderbuch beherrscht sie das lakonische, dialogische Erzählen. Visuell dominieren die Hochhäuser New Yorks, die in Julia Kaergels Bildern expressionistisch schief zusammenwachsen, sich aneinanderzulehnen scheinen - eben so, wie ein Kind sie in den Fluchtlinien von unten aus sehen mag. Alles ist größer in dieser Stadt, das erzählen die Bilder, aber dass am Ende das Schlafschaf Erich ungewaschen zurückkommt und weiterstinken darf, das beruhigt wieder. Und weil die Verleger offenbar guten Geschichten nicht mehr über den Weg trauen, verkaufen sie das Buch auch mit angeheftetem kleinen Stoffschaf als Accessoire. Fehlt nur noch als Dienstleistungsbeigabe ein Ticket nach New York. Wird vielleicht noch, hart wie die Konkurrenz ist auf dem Kinderbuchmarkt.
Doris Dörrie, Julia Kaergel: Lotte in New York. Ravensburger. Ravensburg 1999, 32 Seiten, 29,80 DM
Viele Bilderbücher heutzutage sind üppig ausgestattet, farbensatt illustriert, oft doppelseitig. Meins ganz allein von Annegert Fuchshuber, einer bekannten österreichischen Illustratorin, ist sparsam, arbeitet mit Federstrich und getupftem Aquarell. Auch die Geschichte ist sparsam und handelt vom Teilen. Lila heisst das Mädchen und hat einen Kuchen in der Tasche, als es zum Kindergarten geht, einen Kuchen ganz allein für sich. Aber da kommt ein Bär mit einem Bärenhunger und seufzend teilt das Mädchen. Sie setzt so eine ganze Kaskade in Gang, bis auch noch ein Krümel für die Ameise am Ende der Bröselkette übrigbleibt. Hört sich didaktisch an, ist aber erzählt wie eine alte Fabel und lässt sich Kleineren zum Einschlafen gut erzählen.
Eine Fabel steckt auch in der Geschichte der österreichischen Autorin Käthe Recheis, erzählt nach Motiven eines alten Märchens der Irokesen: Kleine Schwarzpfote. Sie handelt von einem tapferen weissen Hund mit schwarzer Pfote, der seinem Freund, den Jungen rettet und dabei selbst sterben muss. Ein Märchen von Verlust, Abschied, Wiedergewinnen und von der Überwindung der Angst. Christine Sormann zeichnet indianische Masken nach den Falschgesichtern, den Holzmasken der Irokesen. Die Zeichnungen setzen die Geschichte in einem naiv-flächigen Stil und einer ausgeprägten Farbigkeit so um, dass man sie sich gar nicht mehr anders vorstellen möchte.
Annegert Fuchshuber: Meins ganz allein. Gabriel Verlag, Wien 1999, 32 Seiten, DM 24,- Käthe Reicheis, Christine Sormann: Kleine Schwarzpfote. Gabriel Verlag, Wien 1999, DM 27,-
Zum Abschluss etwas für die ganz Kleinen, handliche Büchlein aus dicker Pappe - und Geschichten, in die man sich glatt verlieben kann. Seht mal, sagt der kleine Bär, aber das sagt er erst ganz am Ende, denn vorher, da war er mit Vater Bär und Mutter Bär unterwegs, wandern, sterngucken, den Mond anhimmeln und was man so draussen macht. Aber davon hat der kleine Bär nichts mitgekriegt, denn er hatte einen Apfel gefunden, weil er mit seiner Tasche am Baum hängen geblieben war und die ganze Zeit mit der Tücke des Objekts zu kämpfen hatte. Und nicht anders geht es ihm, als Vater Bär und Mutter Bär die Wohnung umräumen. Wieder sagt der kleine Bär nichts, denn er hat anderes zu tun. Erst als die beiden Alten erledigt im Bett liegen und schnarchen, entfährt ihm das erste Wort: Puh, sagte der kleine Bär, Schlafen ist schwer. So einfach kann das gehen mit den Geschichten. Die Großen und der Kleine leben in derselben Welt, aber jeder sieht sie mit anderen Augen. Und immer denken die Großen, den Kleinen müssten dieselben Sachen wichtig sein. Wie sie sich da aber täuschen. Man sieht es ganz deutlich in diesen zauberhaften, leichtfüssigen und poetischen Bilderbüchern, haltbar, aus Pappe, für die ganz Kleinen. Endlich einmal auch für sie: nicht billiger visueller Ramsch, sondern Qualität auf allen Linien.
Thomas Winding, Ole Könnecke: Seht mal, sagte der Bär. Puh, sagte der Bär. Verlag Beltz, Weimheim 1999. Je 24 Seiten, je DM 12,80
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.