In Zamonien sind Menschen nur eine Minderheit, erklärt der siebenhirnige Dr. Abdul Nachtigaller in seinem "Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder", nämlich eine "Daseinsform aus der Familie der sprachbegabten Säuger, auf recht gehender Daumenträger von mäßi ger Intelligenz (nur ein Gehirn)". Eine klei ne Randgruppe unter den hunderten von Lebewesen, die Walter Moers Pandämonium bevölkern, Zwergpiraten und Berghutzen, Nattintoffen und Lössegrins, italienische Erdhühnchen mit tiefen Basstimmen und mittelindische Drillingsderwische, die natürlich immer zu dritt auftreten. Mittendrin Käpt'n Blaubär, der alles mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Sinnen erlebt hat, um es weiterzuerzählen.
Mit dem knuffigen Lügenkapitän aus der "Sendung mit der Maus" hat dieser post moderne Lügenbaron nicht allzuviel gemeinsam. Er ist sozusagen der Blaubär für die Erwachsenen. Und was er erzählt aus seinen dreizehneinhalb abenteuerli chen Leben (der Hälfte der 27 Leben, die einem Blaubären zur Verfügung stehen), ist auch der satirische Bildungsroman ei nes Pessimisten. Schon in seinem ersten Leben unter den Zwergpiraten lernt Blaubär "alles, was man über das Scheitern wissen muss". Der Weg aus der Unmündigkeit führt, ganz klassisch, über Bildung. Erst die Sprache kennenlernen, dann die Gefühle der Angst, dann das Paradies, schliesslich Eintritt in die Gefilde der Wissenschaft und Schüler bei Dr. Nachtigaller, der nicht nur das selbstreinigende Toilettenpapier und das Treppenfahrrad mit viereckigen Rädern erfunden hat, sondern einfach al les zu erklären weiß: in eben jenem "Lexikon der erklärungsbedürfti gen Wunder", einer amüsanten Wissenschaftsparodie.
Erzählen ist vielleicht das falsche Wort für das, was Walter Moers treibt. Flunkern, schwadronieren, schamlos er finden, sich was zusammenspinnen, masslos ausufern (auch in der Länge von 700 Buchseiten), an keinem Kalauer vor übergehen. Ein Buch für Bücherfresser, für Lesewütige. Ein komisches, albernes, köstliches und verrücktes Buch. Eine wüste Mixtur der Genres, Mythen und Märchenmotive und, alles in allem, eine Reise durch das kulturelle Unterfutter der Gesellschaft.
Denn so verrückt und versponnen das al les daherkommt, man erkennt ihn doch sehr genau, den Ort dieser Schnurrpfeifereien und Fantastereien. Moers beherrscht meisterhaft die Kunst des Wahrlügens. So gleicht die Feinschmeckerinsel, das klassische Schlaraffenland doch sehr den Buffet-Phantasien moderner Kongressbesucher ("Aus dem Meer kamen große Hummer angetorkelt und stürzten sich selbstmörderisch in den brodelnden Öltümpel"). So treffen wir die Eventkultur unserer Tage, wenn Leichtsinnige sich wie Bungeespringer von den Dämonenklippen stürzen, um von einem fliegenden Katastrophenexperten aus der Saurierzeit, dem Pterodaktylus Deus X. Machina im letzten Moment gerettet zu werden. Natürlich ist das Riesenschiff Moloch, das das Meer um Zamonien durchpflügt, der unüberwindliche Moloch Arbeit. Blaubären und Yetis müssen hier als Heizer in der Ofenhölle arbeiten - bis, ja bis Blaubär die Arbeit verweigert. Das war bis dato noch nicht vorge kommen und treibt am Ende das Sklavenschiff in fröhlicher Anarchie in den verschlingenden Malmstrom. "Das Leben ist zu kostbar, um es dem Schicksal zu überlassen", philosophiert Deus X. Machina, der wieder rechtzeitig zur Stelle war,
Das Sprechen lernt Walter Moers' Held übrigens schon im dritten seiner dreizehneinhalb Leben, und zwar von den Tratsch wellen. Die quasseln normaler weise Schiffbrüchige schwindlig, nehmen sich nun aber bedächtig der Bildung des kleinen schiffbrüchigen Bären an, nach dem Motto: "Wer A sagt, kann auch Binominalkoeffizient sagen". Sie lehren ihn alle Wörter und Sätze und alle Arten zu sprechen. Am Ende geben sie dem gelehrigen Schüler auch noch einen Namen: Blaubär. Nicht grade phantasievoll, aber ein Name.
Dies ist auch die treibende und eigensinnige Idee, die dieses Buch als Ganzes antreibt: die Erschaffung und satirische Vernichtung der Welt durch Sprache. Sprachbegabter Säuger eben. Walter Moers zieht den Leser durch einen unaufhörlichen Strudel an Namen, Ereignissen, Erfindungen. Alle müssen benannt werden. Sie existieren nur, weil sie als Worte in die Welt entlassen wur den. Lüge und Wahrheit sind in der Perspektive dieser sprachgesteuerten Phantasie nur relative Kategorien. Wie jeder Geschichtenerzähler, Märchenonkel und Wirtshausflunkerer weiß auch Walter Moers, "dass eine gute Notlüge oft we sentlich aufregender ist als die Wahrheit. Es ist so, als würde man der Wirklichkeit ein schöneres Kleid geben."
Walter Moers: Die 13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär. Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1999, 703 Seiten.
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